Ich habe noch nie Rassismus erlebt. Zum Glück, denn was ich in letzter Zeit so lese und mitbekomme über die Betroffenen, ist wirklich brutal und traurig. Im Gegensatz dazu habe ich nichts dergleichen zu berichten und fühle mich als eingebürgerter Schweizer mit Migrationshintergrund wirklich privilegiert.
Bis vor Kurzem war ich auf der Suche nach einem Mitbewohner für meine Zweier-WG und es kamen mehrere InteressentInnen vorbei. Meine Wohnung liegt mitten in Biel. Die letzte Besichtigung fand gerade gestern statt und es handelte sich um einen jungen, frisch ausgelernten Hauswart, der vielfältiger nicht sein konnte: Er macht viel Sport, unter Anderem Klettern und Skifahren, und ist in mehreren Vereinen aktiv. So ist er hobbymässig bei der Feuerwehr und wirkt auch als Kassier in einem regionalen Verein. Aufgrund einer Neuanstellung in Biel möchte er hierhin ziehen.
Nachdem er die Räumlichkeiten durchgesehen hatte, bot ich ihm ein Glas Sirup an und wir sassen uns an den Esstisch, um ein bisschen zu plaudern. Er machte mir einen sympathischen Eindruck und so kamen wir nach ein paar Schlucken Sirup schnell ins Gespräch.
„Wie bist du eigentlich auf das Zimmer aufmerksam geworden?“, wollte ich wissen.
Er erzählte mir, dass sein Vater Eigentümer sei und er deshalb alles, was ihn interessiere, auf Comparis punkt Zeha vergleiche, um das günstigste und beste Angebot zu finden. „Darum hat er mir ein bisschen geholfen, und mit 550.- brutto und in dieser Lage steht dein WG-Zimmer halt schon sehr gut da“, meinte er schmunzelnd.
Ich lachte und nahm geschmeichelt dieses Kompliment entgegen. „Also habe ich mir dein Inserat genauer angesehen, und als ich im Inserat deinen Namen gesehen habe, war das schon ein bisschen komisch, aber als ich dann gelesen habe, dass du Sekundarlehrer bist, dachte ich: ‚Oh, er ist Sekundarlehrer – dann ist er bestimmt gut integriert‘“.
Wir lachten beide. Ich, weil ich verlegen war und er, weil er es womöglich ernst meinte.
Ich wollte etwas mehr über ihn erfahren und fragte ihn deshalb nach seinen Hobbys und seinem Beruf. „Ich habe kürzlich meine Ausbildung zum Hauswart im Internat für Schwererziehbare abgeschlossen. Das war echt spannend dort, denn es wurde immer etwas kaputt gemacht. Was bedeutet, dass ich immer was zu tun hatte.“
Er schien Humor zu haben.
Ich erzählte ihm, wie wichtig seine Arbeit eigentlich sei und wie dankbar ich als Lehrer bin, dass wir unseren Schulabwart haben, der dafür sorgt, dass wir unsere Schülerinnen und Schüler in einem sauberen und sicheren Umfeld unterrichten können. Auch wenn es den Jugendlichen nicht immer bewusst ist, dass der Schulabwart immer und überall zur Stelle ist.
„Ja, die Wertschätzung für unseren Beruf ist leider nicht immer da. Vor Allem dort, wo ich bis vor Kurzem gearbeitet habe. Unsere Jugendlichen haben da leider wenig von zuhause mitbekommen und es ist schon noch spannend, dass fast drei Viertel der Jugendlichen dort einen Migrationshintergrund hat. Aber du bist ja zum Glück nicht so.“
Ein weiteres Kompliment.
„Stimmt, das habe ich auch schon gehört. Mein ehemaliger Mitbewohner, der Sozpäd in einem Schwererziehungsheim gelernt hat, hat mir das Gleiche erzählt, und das ist schon noch traurig“, nickte ich ihm zu. „Bei denen hat es wohl an vielen anderen Bereichen gemangelt, nicht nur an der Erziehung“, versuchte ich zu erklären.
„Ja, das stimmt schon. Aber krass ist ja, dass sie in die Schweiz kommen und alles erhalten, was ihnen vorher gefehlt hat. Selbst dann ist bei einigen Hopfen und Malz verloren, so habe ich das zumindest erlebt. Man erwartet ja nicht mal viel von ihnen, und ein Bisschen Dankbarkeit hat noch niemandem geschadet“, fügte er lachend hinzu.
„Geht mir manchmal auch so, egal ob im Lehrberuf oder im privaten Leben. Man könnte ein bisschen dankbarer sein. Aber ja, wir alle vergessen manchmal, wie gut es wir hier in der Schweiz haben und dass es leider eine Rolle spielt, wo wir geboren werden und in welchem Umfeld wir aufwachsen. Tönt vielleicht blöd, aber es gibt halt Menschen, die haben da die Arschkarte gezogen und andere wie wir hatten Glück, am richtigen Ort zur richtigen Zeit die richtigen Leute um sich gehabt zu haben. Ich meine, sonst wäre ich wohl nicht Lehrer geworden. Dafür bin ich zum Beispiel dankbar.“
„Gell, und genau darum ist das unfair gegenüber Leuten wie dich. Ich habe zum Beispiel kein Problem mit den vielen Ausländern, die sich gut integrieren so wie du, egal wo sie herkommen. Ich habe ja auch Ausländer als Freunde, und ich liebe Kebab.“
Kebab.
Bei diesem Wort knurrte mir der Magen.
„Du zum Beispiel bist ja aus der Türkei. Da gibt es doch auch Regeln und Gesetze, an die man sich halten muss. Und so ist es eben auch in der Schweiz. Dass wir in der Schweiz in Frieden und Wohlstand leben dürfen, haben wir immerhin den fleissigen und ehrlichen Schweizern zu verdanken und nicht den Gesetzlosen.“
Er hatte da nicht ganz Unrecht. Und ja, man konnte es auch so sehen: Fleissige Schweizer und Gesetzlose. Ich war kurz gedankenversunken und fragte mich, welcher Gruppe man mich wohl zuordnen würde.
„Ich glaube, ich verstehe, was du meinst.“, sagte ich schliesslich. „Du darfst einfach nicht vergessen, dass geflüchtete Menschen gerade deswegen in die Schweiz gekommen sind, weil sie Angst hatten, dass jeden Moment ihr Haus bombardiert wird oder sie von Bewaffneten überfallen werden. Wenn ich so leben müsste, würde ich wohl auch nach meinen eigenen Gesetzen leben. Schon alleine deswegen, weil ich einfach überleben möchte.“
Das Gespräch war echt spannend und verlief in diesem Stil weiter. Je mehr wir uns austauschten, umso mehr wussten wir voneinander und den Überzeugungen des Jeweiligen Bescheid. Doch irgendwann gab es den Moment, wo wir beide froh waren um ein normales, einfacheres Gesprächsthema.
Also fragte ich ihn, wie für ihn ein WG-Zusammenleben aussehen würde.
„Ich werde nicht viel da sein, da ich wegen meinen Hobbys viel unterwegs bin und weil wir uns regelmässig mit der Familie treffen. Klar, wir können schon ab und zu mal etwas trinken gehen, aber mehr wird wohl nicht drinliegen. Ich brauche einfach ein Zimmer wie das hier, das möglichst zentral und möglichst günstig ist, damit ich nicht zu viel Zeit verliere.“
Ich war froh, dass er diesbezüglich genauso offen war wie im bisherigen Verlauf unseres Gesprächs – wusste aber nicht, wie ich darauf reagieren sollte.
„Ausserdem hast du die Wohnung echt schön eingerichtet“, fügte er hinzu, als würde er bemerken, dass ich nachdachte.
Dieser Interessent war echt symapthisch, und weil wir uns so gut verstanden, sprachen wir auch über persönliche Dinge. So auch über unsere Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht.
„Hast du eine Freundin?“, fragte ich ihn.
Es stellte sich heraus, dass seine Freundin ihn erst kürzlich verlassen hatte und er deswegen ein bisschen unter Liebeskummer litt. Was mir Leid tat, denn man sah es ihm an. Darum versuchte ich ihn etwas aufzumuntern und erklärte ihm: „Weisst du, es ist normal, dass du momentan traurig bist. Immerhin habt ihr einander geliebt und bestimmt habt ihr beide noch Gefühle füreinander. Aber hey, Kopf hoch: Du ziehst in eine neue Gegend und was nicht ist, kann ja noch werden. Ausserdem geht es in einer offenen Stadt wie Biel ganz schnell, jemand Neues kennenzulernen“. Ich zwinkerte ihm zu und er lächelte.
Irgendwann standen wir auf und verblieben so, dass ich mich bis Ende Woche bei ihm melden würde. Beim Abschied wollten wir uns die Hand geben, zögerten aber dann im letzten Moment. „Achja, Corona“, murmelte einer von uns.
„Gut, ich melde mich dann bis Freitag bei dir. Hat mich gefreut, …“ sagte ich und bei diesem Satz fiel mir ein, dass ich seinen Namen vergessen hatte.
Ich schloss die Türe hinter ihm zu und während ich die beiden Gläser vom Esstisch wegräumte, liess ich unser Gespräch im Geiste Revue passieren. Mein Natel vibrierte, jemand hatte mir ein Foto der Bieler Demo gegen Rassismus geschickt.
In den USA war ein Dunkelhäutiger aufgrund von brutaler Polizeigewalt umgekommen. Man stelle sich vor, sowas würde in der Schweiz passieren…
Ich schnaufte auf.
„Zum Glück habe ich noch nie Rassismus erlebt“, sagte ich mir innerlich.
Ein Gastbeitrag von F, 33 Jahre alt.