Jojo (20) aus Luzern ist KV Lernende im zweiten Lehrjahr und in ihrer Freizeit liebt sie es zu singen und zu tanzen. In ihrem Leben erlebte Jojo mit 18 und 19 Jahren sexuelle Gewalt. Sie hat sich dazu entschieden, ihre Geschichte mit der Welt zu teilen, das Tabuthema zu brechen und einen sicheren Ort für andere Betroffene zu schaffen. So entstand die Instagram-Seite endrapeculture.now. Erfahre in diesem Text mehr über diese starke junge Frau und ihr Bestreben.
Hinweis
Jojo hat darauf verzichtet, Details der Taten zu nennen, da ihr diese Informationen zu persönlich sind. Ebenfalls sollen im Text nicht die Übergriffe sondern ihre Seite endrapeculture.now im Fokus stehen.
Jojo ist es nicht möglich/unangenehm, das Wort Vergewaltigung auszusprechen. Deswegen haben wir im Text darauf geachtet, ebenfalls andere Begriffe zu verwenden.
Beginnen wir in deiner Geschichte mit der Tat. Wie hast du dich in dem Moment gefühlt als der Übergriff auf dich passierte?
Jojo: Beim ersten Übergriff kannte ich den Täter nicht. Und es war ein unbeschreibliches Gefühl, so etwas hatte ich noch nie vorher erlebt. Zuerst versuchte ich, mich zu wehren, aber als dies Nichts nutzte, geriet ich in eine Schockstarre und verspürte starke Schmerzen. Gleichzeitig habe ich mich geekelt von dieser Person, denn bis zu diesem Zeitpunkt war Sex etwas Schönes für mich, mit Gefühlen und Vertrauen verbunden, doch er war mir fremd und ignorierte einfach mein Nein. Ich spürte die Macht, die der Täter in diesem Moment über mich hatte. Er hielt mich fest und hatte sich einfach das genommen, was er wollte. Es waren so viele Gefühle gleichzeitig und es ist das schlimmste, was ich je erlebt habe.
Der zweite sexuelle Übergriff war genauso schlimm. Der Unterschied war jedoch, dass ich mit dieser Person vertraut war und bis zu diesem Zeitpunkt einvernehmlichen Sex hatte. Die zweite Tat hatte einen grossen Einfluss auf mein Vertrauen und Glauben an die Liebe.
Wie gingst du danach damit um? Hast du dich jemandem mitgeteilt?
Jojo: Ich teilte mich direkt am Morgen nach der Tat einer Kollegin mit, welche mir aber das Ereignis ausredete. Sie meinte, dass ich selber schuld sei, dass es nun sowieso schon passiert wäre und ich es jetzt auch nicht mehr ungeschehen machen könne. Ich solle es einfach vergessen. Nach dieser Reaktion habe ich mir das dann auch vorgenommen, nicht mehr darüber gesprochen und die Erinnerungen an die Tat aus meinem Alltag verbannt.
Erst später, dazumals lebte ich in einem Kinderheim, sprach ich ungewollt mit einer Praktikantin darüber. Die Worte flossen einfach aus mir heraus. Und erst als sie mir am Ende des Gespräches die Frage stellte, ob ich überhaupt realisiert habe, was mir da geschehen sei, kapierte ich es. Mir wurden die Augen geöffnet. Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt wie ein Roboter funktioniert, doch nun war mir klar, was geschehen war. Erst in diesem Moment änderte sich mein ganzes Leben. Die Realität hatte mich eingeholt. Danach fing es an, mir richtig schlecht zu gehen, ich war oft traurig, Albträume quälten mich, ich hatte Angstzustände, Panikattacken. Ich fing an Paranoid zu werden. Gewisse dieser Symptome begleiten mich bis heute.
Wie hat diese Person und dein Umfeld reagiert?
Jojo: Die Praktikantin teilte mir dann mit, dass sie diesen Vorfall der Heimleitung melden müsse, und das war für mich in Ordnung so. Das Heim hat mich dann sehr unterstützt und hat mich dann auch zur Opferberatungsstelle begleitet, welche mir persönlich zwar nicht viel gebracht hat, aber das Heim und die Mitarbeiter waren für mich da.
Mit der Zeit habe ich dann auch meinen Freundinnen von meiner Erfahrung erzählt. Die meisten waren schockiert und wussten nicht, wie sie damit umgehen sollen. Ob sie Fragen zur Tat stellen dürfen, wie sie mich am besten trösten oder unterstützen könnten usw. Und ich selbst wusste es auch nicht wirklich, denn es ist sehr schwierig, mit so einem Trauma klarzukommen, das Geschehene zu akzeptieren und zu verarbeiten. Manchmal wurde ich wütend, wenn ich mich missverstanden von anderen Personen fühlte. Doch sie konnten das Geschehene nicht nachvollziehen, da es ihnen – Gott sei Dank – nicht passiert ist. Hier musste ich dann lernen, nicht zu erwarten, dass andere mich durch ihr Verständnis oder ihre Hilfe «heilen» können. Sondern dass ich das selbst schaffen muss.
Ich muss sagen, was mir am meisten geholfen hat oder mit wem es am einfachsten ist darüber zu sprechen, sind andere Opfer von sexueller Gewalt, weil ich mich dann nicht erklären muss und auch nicht das Gefühl habe, dass meine Geschichte hinterfragt oder verurteilt wird. Wie viele Frauen, Männer und auch Kinder von diesem Thema betroffen sind, habe ich gemerkt, als ich mich dann, dazu entschieden habe, das, was mir widerfuhr, auf den sozialen Medien zu teilen. Hierbei ging es mir nicht darum, mich in den Mittelpunkt zu stellen oder Mitleid zu bekommen, sondern ich wollte anderen helfen und mitteilen, dass sie nicht alleine sind. Mir war es wichtig, dieses Tabuthema zu brechen. Und für mich selbst war es ein Hilferuf, durch welchen ich in Kontakt mit vielen Menschen kam, die mir Vieles mit auf den Weg geben konnten. Selbstverständlich gab es auch negative Reaktionen, selbst von Personen, die mir nahestanden, doch zu diesen habe ich dann den Kontakt abgebrochen. Das Ganze hat mich definitiv stärker gemacht.
Wie beeinflusst dich dieses Erlebnis heute noch?
Jojo: Ich muss sagen, das Erlebnis ist noch sehr präsent. Ich möchte es mir manchmal selbst nicht eingestehen, doch es beeinflusst mich sehr. Ich kann beispielsweise das Wort V… nicht aussprechen, ich höre es auch nicht gerne. Denn nur schon wenn ich das Wort hörte, bekam ich früher Herzrasen und es wurde mir übel. Mittlerweile ist es mir einfach unangenehm. Manchmal habe ich dann auch Flashbacks, sehe und spüre, was mir dazumals angetan wurde. Ich bin auch viel empfindsamer und vorsichtiger geworden. Es gibt schlechtere Tage aber dann auch wieder bessere.
Wie gehst du damit in einer möglichen Liebesbeziehung um?
Jojo: Nach dem zweiten Vorfall mit der Person, welche ich ja eigentlich zu kennen schien und welcher ich vertraute, habe ich mein Vertrauen in Männer komplett verloren. Beim ersten Täter konnte ich mir noch sagen, diesen Mann kannte ich nicht und er war halt einfach böse. Doch nachdem fühlte es sich an, wie wenn es völlig keine Rolle spielt, wer die Person ist, und dass es immer passieren kann. Deswegen kann ich mich momentan nicht auf eine Beziehung einlassen, da das Vertrauen weg ist.
Wie gehst du mit deinem Trauma um? Was willst du oder kannst du dagegen tun?
Jojo: Ich habe mich entschieden, dass ich mein Leben nicht einfach wegschmeissen werde wegen diesen zwei Männern. Ich bin noch so jung und habe noch so vieles vor mir. Ich will etwas erreichen in meinem Leben. Ich will ihnen nicht die Macht darüber geben, wie ich weiterlebe, denn sie machen auch so weiter, wie wenn nichts gewesen wäre und verschwenden wahrscheinlich keinen Gedanken an mich. Und ich denke jeden Tag an sie. Deswegen will ich mich auf mich konzentrieren.
Das habe ich vor allem auch beim Betreiben der Instagram Seite gemerkt, welche mir zwar sehr hilft, aber dennoch manchmal auch eine grosse Last ist. Da mich das Schicksal anderer Überlebenden sehr mitnimmt. Deswegen muss ich auch dort manchmal etwas Abstand schaffen und mir Zeit für mich nehmen. Es gibt noch ganz viele Gefühle, die mich beschäftigen, mit welchen ich mich auseinandersetzen muss. Hier war es auch schwierig sich selbst einzugestehen, dass ich mir professionelle Hilfe holen muss und diese auch zulassen sollte. Ich konnte erst vor einer Woche das erste Mal mit meiner Psychologin so richtig über alles, was mich beschäftigt sprechen.
Wie findest du, geht unsere Gesellschaft mit diesem Thema um? Was könnte man verbessern?
Jojo: Mir ist aufgefallen, dass einfach oft weggesehen wird. Über das Thema wird geschwiegen. Und dass meistens, wenn man sich dann mal damit beschäftigt, anstatt auf den Täter zu blicken, die betroffene Person hinterfragt wird mit Fragen wie: «Was hattest du an?» «Wieso warst du überhaupt an diesem Ort?» usw. So wenig Menschen ist klar, dass ein solcher Übergriff so viel mehr ist als nur ungewollter Sex. Das ist ein so grosser Schmerz. Deine Grenzen werden einfach vom Täter überschritten. Damit dieser für ein paar Minuten das hat, was er unbedingt wollte, wird ein ganzes Leben zerstört.
Wieso tragen wir die Verantwortung? Ich meine, wieso wird von uns erwartet, dass wir Selbstverteidigungskurse besuchen sollen? Dass wir uns «richtig» anziehen? Dass wir auf dem Nachhauseweg auf uns achten müssen? Mit einer Freundin Nachhause gehen sollen? Wieso können Täter nicht einfach ein «Nein» akzeptieren? Wieso wird Männern dies nicht Zuhause und in der Schule beigebracht? Wieso wird dieses Thema nicht in der Aufklärung thematisiert? Das Schweigen muss gebrochen werden, es muss mehr darüber gesprochen werden.
Das Bild von Täter und Opfer muss ebenfalls geändert werden. Es gibt nicht eine bestimmte Art Mensch, welchem so etwas zustossen kann. Es passiert überall und jedem. Und noch viel wichtiger: Es gibt dann auch nicht einen richtigen Weg, wie man danach reagiert oder nicht. Auch die Strafen für die Täter fallen meiner Meinung nach viel zu milde aus, auch hier müsste definitiv etwas geändert werden.
Erzähl uns von deinem Projekt endrapeculture.now. Wann und wieso hast du dich dazu entschieden, dein Projekt endrapeculture.now zu machen?
Ich kann mich noch gut an meine Hilflosigkeit erinnern. Ich wäre so froh gewesen, hätte ich jemanden oder einen Ort gehabt, wo ich darüber hätte reden können und auch einfach Fragen hätte stellen können.
Deswegen habe ich mich dann dazu entschieden, eine Seite zu eröffnen, auf welcher ich als erstes einmal die verschiedenen Arten von sexueller Gewalt erkläre. Es besteht ein grosses Unwissen zu diesem Thema, weil es sich wie bereits erwähnt um ein gesellschaftliches Tabu handelt, das ich mit meiner Seite brechen möchte. Ich selbst musste mir erst auch all diese Informationen aneignen und bin froh, dass ich diese nun meiner Community weitergeben kann. Endrapeculture.now soll ein sicherer Ort für andere Überlebende sein, damit sie sich nicht alleine fühlen und eine Möglichkeit haben, sich auszutauschen.
Meine Seite hat das Ziel, alle Personen anzusprechen und vor allem auch aufzuklären. Vor kurzem habe ich ein Projekt gemacht, in welchem ich einige Überlebende darum bat, in drei bis vier Sätzen zu beschreiben, wie sie sich in diesem Moment gefühlt haben, als es passierte. Damit wollte ich auch Menschen, die keine Opfer von sexueller Gewalt sind, zeigen, was in einem Menschen passiert, der so etwas erlebt hat. Das Ganze soll das Verständnis fördern und auch auf eine Art eine Abschreckung sein. Es soll aufzeigen, wieso man so etwas niemals jemanden antun sollte.
Was sind deine weiteren Schritte? Was ist dein Ziel?
Ich habe noch einiges mit meiner Seite vor: Der nächste Schritt wird eine Webseite zum Thema sexuelle Gewalt sein und ebenfalls würde ich mir wünschen, eine Selbsthilfegruppe zu gründen, sobald sich die Coronasituation legt. Was mir vor allem wichtig ist und was ich noch mehr aufzeigen möchte, ist, das auch Männer Opfer sexueller Übergriffe sein können. Auch ihnen möchte ich eine Plattform bieten und der Gesellschaft aufzeigen, dass sie genauso ernst genommen werden sollten wie Frauen in einer solchen Situation. Hier kommen auch in nächster Zeit Beiträge dazu auf Instagram.
Was möchtest du anderen Mädchen und Jungen mit auf den Weg geben, welche Ähnliches erlebt haben oder immer noch erleben?
Das allerwichtigste ist, dass du dir niemals, wirklich niemals die Schuld gibst. Es ist völlig egal, wo es passierte, egal was du anhattest, egal wie alt du warst, egal was vorher war, ob du und die Person euch mitten im Sex befandet, und du nicht mehr wolltest. Egal ob es jemand aus deiner Familie war, du bist niemals der Grund dafür oder schuldig. Der Täter ist das Monster, welcher die Entscheidung getroffen hat, dir so etwas anzutun. Ich habe sehr lange gebraucht, das auch für mich zu glauben.
Setze dich mit deinem Trauma auseinander und so schwer es auch ist, gestehe dir ein, was dir passiert ist. Du kannst es leider nicht mehr ändern, aber du kannst darüber sprechen. Suche dir eine Person, welcher du dich mitteilen und es einfach rauslassen kannst. Und ja, es besteht das Risiko von negativen Reaktionen. Hier empfehle ich dir, von diesen Leuten, egal ob sie aus der eigenen Familie sind, Abstand zu nehmen. Du hast schon eine genug grosse Bürde mit dir mitzutragen, dann benötigst du nicht noch mehr Ballast.