Letztes Jahr, am 24. Februar 2022, fing der Krieg in der Ukraine an. Deswegen habe ich mit Vladlena Wächter ein Interview geführt. Sie ist eine stolze Ukrainerin, die in der ersten Stunde des Krieges der Ukraine mit grossen Spendenaktionen geholfen hat. Ich habe mit ihr über ihre Arbeit, ihre Gefühle und über die Situation in der Ukraine gesprochen.

Kannst du dich kurz vorstellen?

Ich heisse Vladlena und bin 23 Jahre alt. Ich komme aus der Ukraine und kam mit acht Jahren in die Schweiz. Ich bin verheiratet.

Wie bist du dort aufgewachsen?

Ich lebte die ersten acht Jahre in Sjewjerodonezk, das im Osten der Ukraine liegt. Meine Urgrossmutter hat auf mich aufgepasst und sie hat mit mir Ukrainisch geredet. Dort bin ich auch zwei Jahre in eine ukrainische Schule gegangen, aber ich bin mit Russisch aufgewachsen, da in der Ostukraine Russisch gesprochen wurde als ich dort gelebt habe. In meiner Region sprach die Mehrheit vor 2014 Russisch. Nach 2014 hat die Regierung alle russischen Schulen geschlossen und hat daraus ukrainische Schulen gemacht. Meine ganze Verwandtschaft redet nur Russisch. Schon aus diesem Grund sollte ich nicht die Sprache vergessen. Ich kann Russisch lesen, aber das Schreiben ist schwer, da ich die Grammatik nicht gelernt habe.

Meine Muttersprache ist Russisch. Ich verstehe Ukrainisch, wenn man langsam redet. Ich versuche auch die ukrainische Sprache aufzunehmen, wenn ich mit jemandem rede, der Ukrainisch redet, damit ich Ukrainisch lernen kann. Einmal habe ich ein Kompliment bekommen, dass ich einen ukrainischen Akzent in meinem Russisch habe.

Ich bin nun 16 Jahre lang hier in der Schweiz und sie wurde zu meiner zweiten Heimat.

Wie hast du den 24. Februar erlebt, wo bist du gewesen und was hast du gemacht?

Ich war bei der Arbeit gewesen und es war sehr schwer. Kurz bevor ich mit der Arbeit angefangen habe, hat mein Vater angerufen. Ich hatte vor einer Woche so ein Gefühl gehabt, dass etwas passieren wird. Aber meine Verwandten haben gesagt, dass alles gut sein wird. Am diesen Tag, dem 24 Februar um halb acht oder viertel vor acht, hat mein Vater mich angerufen und hat gefragt, ob ich die Videokamera einstellen kann. Ab diesem Moment habe ich gespürt, dass etwas nicht okay ist, da er dies sehr selten gemacht hat. Dann bin ich rausgegangen und habe die Kamera angemacht. Mein Vater war kreidebleich und hatte Tränen in den Augen gehabt. Er hat es nicht direkt gesagt, dass der Krieg angefangen hat. Man hat es gesehen. Dann bin ich zusammengebrochen und rannte auf die Toilette. Ich habe geweint, geweint und geweint. Ich habe versucht durchzuhalten und mich abzulenken. Aber ich habe es nicht geschafft. Ich musste immer jede halbe Stunde auf die Toilette und habe geweint.

Es war sehr schwierig und das war einer den schlimmsten und schwersten Tagen meines Lebens.

Kennst du jemanden, der an der Front ist?

Ja, mein 55-jähriger Vater ist seit dem ersten Tag im Krieg. Eigentlich habe ich von ihm offiziell erfahren, dass es Krieg ist. Er war ein paar Monate an der Front, aber er wurde zurückgezogen, da er Rückenprobleme hatte und dann Nierensteine bekommen hat. Nachdem er sich erholt hat, hat er seine Arbeit an der Front reduziert. Er ist immer noch dort, er rekrutiert Soldaten im Hauptquartier in der Ostukraine. Er kann mir jedoch nicht sagen, wo er sich befindet.

Wenn ich meinem Vater eine Nachricht schicke, bekommt er sie, aber er liest er sie nicht. Dann habe ich ein komisches Gefühl, ob noch alles in Ordnung ist. Ich versuche mich zu beruhigen und denke, dass er keine Zeit hat oder zu viel zu tun hat. Wenn er sie nicht bekommt, dann sage ich mir, dass er keinen Strom oder kein Netz hat.

Wie sieht deine Gegend in der Ukraine aus?

Vor meinem Block, wo ich aufgewachsen bin, steht ein Aprikosenbaum. Auf diesen Baum bin ich und meine Freunde geklettert. Er war unser Baum. Letztens fuhr jemand durch diese Gegend. Rum um den Baum herum war alles in Ruinen, aber der kleine Aprikosenbaum steht immer noch dort. Für mich ist es beruhigend und unglaublich, dass er immer noch steht.

Leider werden die Strassen und die Gegend, wo ich aufgewachsen bin, wo meine Erinnerungen sind, abgerissen und Neues wird dort aufgebaut. Mein Quartier wird nicht mehr so sein wie vorher. Die Erinnerungen sind nicht verloren, aber ich kann meiner Familie nicht mehr zeigen, wo ich aufgewachsen bin. Das wird es nicht mehr geben und das tut weh.

Du hast grosse Spendenaktionen organisiert. Erzähl von deiner Arbeit.

Ich habe mit meiner Mutter und mit meinem Ehemann Spendenaktionen organisiert und das war eine sehr spontane Sache. Ich bin bis heute überrascht, wie wir es geschafft haben vier ganze LKWs mit Spenden zu füllen. Am Anfang des Kriegs war es nicht das Problem die Spenden zu bekommen, sondern die Spenden in die Ukraine zu transportieren. Denn wir haben keine LKWs gefunden. Mein Ehemann hat vielen Firmen angeschrieben, ob sie uns einen LKW spendieren oder einen Fahrer. Es war ein Drama. Doch Emmi hat uns ein LKW gesponsert und wir sind wirklich dankbar. Der Emmi-Fahrer hat sogar frei genommen und ist freiwillig zur Grenze gefahren.

Vladlena Wächter steht in der Mitte

Ich habe nicht erwartet, dass eine grosse Firma uns einen LKW geben würde. Die anderen drei Fahrer waren Ukrainer, die mit den restlichen LKWs aus der Ukraine zu uns kamen. Sie sind von Egerkingen bis nach Polen in die Nähe von Uschgorod gefahren. Wir haben auch Spendengelder bekommen und mit diesem Geld haben wir das Benzin bezahlt.

Die erste Spendenaktion ging zwei Tage lang und am ersten Tag hatten wir so viele Spenden, dass wir nicht wussten, wohin damit. Spontan wurde uns der Gemeindesaal zur Verfügung gestellt. Weiter hat uns ein Garagist einen Anhänger organsiert und zweimal hat uns auch eine Kirchgemeinde unterstützt. Wir konnten auch bei einem Bauer Kleider lagern. Wir haben sehr viel Unterstützung bekommen. Aber der Kern dieser Aktion war meine Mutter, mein Ehemann und ich. Was uns sehr viele Nerven gekostet hat.

Welche Probleme gab es bei der Spendenaktion?

Am Anfang hatten wir zu viele Kleider und wir sind auch dankbar für jedes Kleiderstück, aber manche Personen haben Schuhe mit hohem Absatz oder Abendkleider gespendet und das braucht man jetzt nicht unbedingt. Wir hatten auch einen Container, in den wir alle aussortierten, nicht brauchbaren Kleider hineingetan haben. Aber danach hatten wir keine Kapazitäten mehr gehabt, um die Kleider zu sortieren. Somit haben wir die Kleider unsortiert geschickt.

Ein weiteres Problem war, dass manche Firmen 5’000 Franken für einen LKW verlangt haben. Wir sind keine Organisation, die so viel Geld hat. Wir sind Privatpersonen. Wenn wir so viel für einen LKW hätten bezahlen müssten, dann hätten wir uns nur einen Lastwagen leisten können. Aber zum Glück haben wir vier LKWs gefunden.

Nach einiger Zeit haben die Spenden abgenommen. Bei der letzten Möglichkeit kam niemand mehr. Deshalb mache ich keine aktiven Aufrufe mehr. Ich frage nur die, die ich kenne, ob sie etwas spenden wollen. Jetzt auch mit dem Erdbeben in der Türkei ist es schlimm, denn die Menschen in der Türkei brauchen auch Hilfe. Es ist einfach schlimm, ein Krieg und eine Naturkatastrophe.

Momentan herrscht in der Ukraine ein Mangel an Kleidern, da viele Kleider an Flüchtlinge gegangen sind.

Wie erlebst du die jetzige Zeit?

Vor einigen Wochen war der jährliche Sirenentest und ich war zufällig mit meiner Mutter draussen. Ich habe zur ihr gesagt, das hören die Menschen in der Ukraine täglich und stundenlang. Ich weiss nicht, wie sie sich fühlen, aber ich finde es schlimm und fühle mit ihnen mit. Am liebsten würde ich alle Sachen packen, nach Russland zum Putin gehen, Putin auf den Tisch schlagen und sagen, dass er mal Klartext reden solle und sagen, was er für ein Problem hat.

Mein Ehemann wurde von jemanden über Instagram attackiert, weil er für die Ukraine ist. Derjenige hat auch geschrieben, wie großartig Putin ist usw. Mein Ehemann hat ihm geantwortet, dass er in die Ukraine gehen soll und selbst die Lage vor Ort anschauen solle.

Was ist deine Meinung zu dieser Situation?

Ich finde den Krieg sehr unnötig. Aber man sollte nicht vergessen, dass der Krieg schon 2014 begonnen hat. Zum letzten Mal war ich im Jahr 2017 in der Ukraine. Als ich dort gewesen bin, hat mich mein Vater in der Region rumgefahren und gezeigt, wie kaputt die Häuser schon waren, nachdem sie die Region zurückerobert haben. Ich hatte dort eine Wohnung, die neben einem Wald war, und ich habe immer Schüsse gehört. Das war im Jahr 2017.

Man kann eine andere Meinung haben, aber man muss blind sein, wenn man sagt, dass es keinen Krieg gibt und dass dies alles nur Propaganda ist. Ich sehe es nicht als Propaganda und ich sehe es nicht als erfunden an. Ich sehe meinen Vater, der an der Front ist und kämpft. Ich habe gesehen, wie meine Wohnung abgebrannt wurde. Ich habe am Anfang jede Nachricht und jede Instagram-Story angeschaut und habe gehofft, dass meine Wohnung noch steht. Denn dort habe ich meine Kindheit erlebt und ich hatte dort Sachen gehabt, die voll mit Erinnerungen waren. Im August ist eine Bombe in meine Wohnung gefallen und alles ist verbrannt. Ich habe geweint. Ja, es ist nur eine Wohnung, aber für mich ist mehr als eine Wohnung gewesen. Deswegen finde ich, dass man die Aussage, dass der Krieg nicht stattfindet, nicht bringen kann. Es ist die Wahrheit und wenn jemand mir dies sagen würde, dann würde ich mit ihm eine heftige Diskussion anfangen und zeigen, dass der Krieg existiert.

Eine der Spendenaktionen

Die Haltung der Schweiz finde ich auch sehr schade. Diese Haltung ist für mich keine Neutralität mehr. Es wird alles abgelehnt, was wirkliche Unterstützung wäre. Ich habe so ein Gefühl, dass wenn der Krieg noch ein weiteres halbes Jahr andauern wird, dass die Schweiz wegen dieser Haltung Probleme mit der EU bekommt. Ich bin erstaunt, dass die Ukraine standhält, Ich bin auch für jedes Land dankbar, dass der Ukraine hilft. Doch ich denke der Krieg würde früher enden, wenn die anderen Länder schneller und mehr Unterstützung geschickt hätten.

Es ist wie ein Trend, denn man liest momentan wenig über die Ukraine in der Zeitung und die Konzentration schwindet nach ein paar Wochen. Das finde ich schade, denn der Krieg ist nicht vorbei. Der Krieg ist nicht weit weg, die Strecke zwischen der Schweiz und dem Krieg ist die gleiche wie von Portugal bis in die Schweiz.

Was ich gut finde ist, dass Swisscom den russischen Propagandasender blockiert hat. (lacht)

Welche Schockmomente hast du gehabt?

Ich hatte mehrere Schockmomente. Mein Vater bekam einen Schuss in den Helm ab. Aber ihm ist nichts passiert.

Ein weiterer war als mein Vater mit einer Truppe zur Station mit dem Auto gefahren sind. Sie haben einen Umweg genommen, damit sie schneller in Sicherheit sind. Aber es das war nicht der Fall. Die Russen kamen aus dem Hinterhalt zu ihnen und haben sie beschossen. Deshalb sind sie über die Nacht durch den Wald zur Station gegangen. Ich bin glücklich, dass er überlebt hat.

Es ist schwierig alles zu wissen, aber ich will alles hören, damit ich Bescheid weiss, was alles passiert ist. Aber wenn ich es höre, dann ist es schwierig.

Wie lange wird der Krieg deiner Meinung nach dauern?

Ich hoffe, dass der Krieg bald enden wird, dass ich endlich wieder meinen Vater sehen kann. Aber wie lange der Krieg noch gehen wird, ist schwer zu sagen. Denn die Russen attackieren die Ukraine sehr und die Ukraine braucht mehr Unterstützung. Putin zerstört hier ein Land und ich hoffe, dass diese Zerstörung bald enden wird.

Was würdest du tun, wenn der Krieg endet?

Wenn ich frei bekomme, dann würde ich meine Koffer packen und in die Ukraine und zu meinem Vater gehen. Ich würde am liebsten beim Aufbau helfen. Aber ich kann es mir nicht leisten. Ich bin kein Millionär, der alles stehen lassen kann. Aber ich würde sicher ein oder zwei Wochen in der Ukraine sein und mein Heimatdorf sowie meine verbrannte Wohnung anschauen. Ich will alles selbst anschauen. Es wird sicher traumatisch werden. Aber ich will es noch sehen, bevor es alles abgerissen wird.

Man sollte positiv und optimistisch sein. Aber es gibt Tage, an denen man nicht mehr kann und weinen muss. Man hat sich nicht an diese Situation gewöhnt, sondern man hat gelernt mit ihr zu leben. Ohne meinem Ehemann hätte ich es nicht überlebt. Er war auch eine grosse Stütze bei den Spendenaktionen.

Vielen Dank für deine Zeit!

Die Bildern sind von Vladlena Wächter.

Geschrieben von:

Svět je malý a o náhody tu není nouze.

1 Comment

  1. Deborah Amolini Reply

    Erschreckend, wie schnell ein Jahr vergangen ist. 🙁

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