Der Ruf des mittelalterlichen Menschen ist heute mehr als negativ. Als dumm und ungebildet werden sie heute oft dargestellt, geknechtet und ausgebeutet unter dem schlechten Einfluss der katholischen Kirche. Jegliche wissenschaftlichen Fortschritte? Fehl am Platz. Das Mittelalter hat sich bis heute als eine Epoche des intellektuellen sowie kulturellen Stillstands etabliert und wird folglich in Geschichtsbüchern und Romanen jeglicher Art als rückständig und religionsinfiltriert wiedergegeben.

Das Spukgespenst der Welt als Scheibe

Das mag bis zu einem gewissen Punkt korrekt sein. Der Einfluss der katholischen Kirche ist unbestreitbar. Auch Hexenverbrennungen zeugen nicht von grossem intellektuellen Weitblick. Doch tendiert man heute dazu, die Gesellschaft von damals zu unterschätzen. Prominentestes Beispiel: Man glaubt heute mit viel Überzeugung die Legende von der Welt als Scheibe im Mittelalter. Es sei der weitverbreitete Glauben gewesen, die Erde sei eine Scheibe. Sogar Kolumbus’ Matrosen seien voller Angst gewesen, ihr Schiff würde ungebremst über den Rand der Erde herausfallen. Doch verschiedenste Quellen dieser Zeit, zum Beispiel von Priestern, Mönchen (notabene Vertreter der verteufelten Kirche), aber auch Kaufleute und Künstler, zeigen, dass die Erde bereits zu dieser Zeit ganz selbstverständlich als Kugel betrachtet wurde.

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Auch die Kirche schien sich über die Vorstellung der Erde als Kugel keine Gedanken zu machen. Galileos legendärer Gerichtsfall handelt dann auch gar nicht von der Erde als Scheibe, sondern von der Position von ihr und der Sonne. Galileo musste schliesslich dem kopernikanischen Weltbild abschwören. Es sind bis heute keine Quellen über eine Stellungnahme des Vatikans vorhanden, die die Erde als Scheibe festlegten. Im Gegenteil: Man basierte sich auf das Wissen der Griechen, hatten doch bereits die grossen antiken Philosophen wie Aristoteles diesen Fakt erkannt.

Der renaissancistische Rufmord

Woher kommt also der Irrtum des rückständigen Mittelalters? Es waren Vertreter der Renaissance und Aufklärung, die ihre zweifelsohne revolutionären Erkenntnisse vom dunklen Mittelalter abgrenzen wollten. Mit Erfolg: Die Renaissance ist bis heute als Blüte der menschlichen Schaffenskraft im Kopf der Menschen verankert, während es das Mittelalter nach wie vor schwer hat, sich von seiner falschen Vergangenheit zu lösen.


tize.ch-Redakteur Levin Stamm deckt die grössten Irrtürmer der Geschichte auf. Von Napoleon bis Edison. Alle bisherigen Artikel kannst du unter tize.ch/fallaciesofhistory/nachlesen.

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