In wenigen Ländern werden täglich mehr Menschen aus der Armut gehievt, expandiert die Wirtschaft schneller als in Indien. Dementsprechend oft liest man, Indien nähere sich dem entwickelten Westen immer mehr an. Und vergisst dabei: Die grösste Demokratie der Welt macht bereits heute vieles besser als der oft hochgejubelte Westen.
#1 – Das Gegenteil einer Wegwerfgesellschaft
Abfallberge, sich türmend am Rande von verschmutzten Strassen und verseuchten Gewässern – es ist wohl eines der meistverbreiteten Bildern in den Köpfen der meisten Westler. Doch was oft als Teil der Kultur missverstanden wird, ist im Grunde genommen eine Mischung aus Jahrzehnten von politischer Unfähigkeit und industrieller Ausbeutung, deren beiden Ursprung sich im kolonialistischen Indien finden lassen. Wer aber einen Fuss in eine indischen Familie setzt, der wird überrascht von der Nachhaltigkeit, mit der ein indischer Haushalt geführt wird. Diese Sparsamkeit im Umgang mit Ressourcen ist nur teilweise auf noble Absichten zurückzuführen. Vielmehr sind im Grossteil der rapide entstehenden Mittelschicht die Erinnerungen an Zeiten in extremer Armut noch sehr präsent, waren Bildung oder materieller Wohlstand doch ein Privileg der Eliten. So kommt es, dass auch einige Generationen später Lebensmittel nur selten über das Verfallsdatum im Kühlschrank verweilen – geschweige denn gekochtes Essen weggeworfen wird. Und auch ein zerrissenes T-Shirt hat in Indien noch längst nicht ausgedient. Erst wird es als Staublappen, dann für den Boden und schliesslich vielleicht noch für die Reinigung des Autos verwendet. Auch wenn diese Haltung ihren Ursprung in den finanziellen Nöten der Vergangenheit hat, der verschwenderische und konsumsüchtige Westen könnte sich davon eine dicke Scheibe abschneiden.
#2 – Die Suche nach Lösungen beginnt von innen
Im analytisch und pragmatisch veranlagten Westen wird ein Problem zumeist mit harten Fakten aufgegriffen. In der Geschäftswelt misst man in unzähligen Meetings Vor- und Nachteile ab, versucht in hitzigen Debatten das Gegenüber von der besten Lösung zu überzeugen und ersäuft sich generell in einem Berg von Arbeit. Doch auch das Individuum schreit bei der erstbesten Gelegenheit nach Selbsthilfebücher und -gruppen, schreitet sogleich zum nächsten «Lifecoach» oder greift zu Tabletten gegen jedwedes kleine Leiden. In Indien hingegen liegt der Fokus mehr beim Selbst: Inspiriert von jahrtausendealten Weisheiten, die sich auf dem indischen Subkontinent langsam entwickelt hat, können die Inder auf eine reiche Auswahl von verschiedenen spirituellen Methoden zurückgreifen. Sei es Meditation oder Yoga – in Indien ist die Überzeugung, dass Veränderung zuerst in uns selbst erfolgen muss bevor wir sie in die Welt tragen können, stark in der eigenen Identität integriert. Dementsprechend gehen breite Schichten der Bevölkerung, ob religiös oder nicht, ihrem inneren Frieden genauso akribisch nach wie ihrer Arbeit.
#3 – Es geht auch ohne Fleisch
Gäbe es ein Mekka für Vegetarier, es wäre wohl Indien. Das Land blickt auf eine 2000 Jahre alte Tradition des Vegetarismus zurück. Folglich verzichtet bis heute ein grosser Teil der Bevölkerung auf Fleisch und Eier (diese gelten in Indien ebenfalls als nicht-vegetarisch). Doch selbst Allesesser beschränken den Konsum auf Fleisch auf wenige Male pro Monat – zumeist wird Fleisch, wie es früher auch im Westen üblich war, nur sonntags aufgetischt. Das zeigen auch die Statistiken: Mit einem Pro-Kopf-Konsum von 4.4 Kilogramm verzehrt weltweit nur der östliche Nachbar Bangladesch (4 Kilogramm) weniger Tiere. Es steht im krassen Gegensatz zu der westlichen Zivilisation, wo Fleisch jeden Tag, wenn nicht für jede Mahlzeit auf den Teller kommt – mit einem Pro-Kopf-Konsum von 74.7 Kilogramm essen Herr und Frau Schweizer 17 Mal mehr Fleisch als der durchschnittliche Inder. Dieser Unterschied widerspiegelt sich am deutlichsten in der indischen Küche, die eine weltweit einzigartige Vielfalt an vegetarischen Gerichten, speziell im Süden des Landes, lassen jeden Fleischesser mit dem Argument, die vegetarische Küche lasse es an Raffinesse fehlen, verstummen. Speziell in Zeiten eines höheren Klimabewusstseins sollte der Westen seinen Fleischwahn wieder etwas runterfahren – Indien wäre dabei als Leitbild ideal.