Mittlerweile ist es zur Selbstverständlichkeit geworden: Passiert eine Massenkarambolage, stürzt irgendwo ein Flieger ab und auch wenn sich Schiessereien ereignen, es wird bestimmt ein Video davon geben. Einer wird das Unglück, das sich gerade ereignet, sicher gefilmt oder gestreamt haben, um des mit der Nachwelt zu teilen. Doch während wir durch diese Person mit Bildern und Informationen beliefert werden, hätte er oder sie doch auch etwas im Bereich des Hilfreichen tun können?

In Ausnahmesituationen

Es ist kein Vorwurf, sondern eine mit Schrecken festgestellte Entwicklung unserer Einstellung: Ereignet sich etwas Aussergewöhnliches, wird das Smartphone gezückt. Als ob wir darauf konditioniert worden wären, immer alles mit unserem virtuellen Umfeld teilen zu wollen, drücken wir auf den Record oder Video Button. Manchmal dient dies selbstverständlich der Unterhaltung. Auch ich habe schon Beatboxer auf der Strasse gefilmt, weil ich das Erlebnis gerne teilen wollte. Allerdings kann das nicht verglichen werden mit Personen, die beispielsweise Schlägereien filmen oder streamen. Natürlich, einzugreifen ist riskant, doch die Polizei und einen Krankenwagen zu alarmieren kostet einen genauso viel Akku, wie wenn man die Tat aufzeichnet. Ereignet sich eine Naturkatastrophe, so wird es in diesem Falle schwieriger, bei irgendeinem Amt anzurufen, das den daherkommenden Tsunami stoppen könnte. Doch auch in diesem Falle frage ich mich: Warum ermöglichen wir es in einer solchen Situation anderen Menschen, die weit weg vom Geschehen sind, virtuelle Gaffer zu werden? Welchen Sinn hat es, Leid und Zerstörung zu dokumentieren?

Noch viel wichtiger ist jedoch, warum wir es uns, wenn wir zu den Aussenstehenden gehören, überhaupt ansehen. Was ist es, das uns antreibt, diese Bilder mitverfolgen zu wollen? Man könnte schon fast sagen, dass wir uns am Leid anderer ergötzen oder uns auf irgendeine Weise besser fühlen, weil wir nicht in dieser Situation sind. Dies gilt jedoch nicht nur für schlimme Ausnahmesituationen, in denen Menschen womöglich ihr Leben verlieren. Solche Aufzeichnungen werden nämlich meistens von Privatpersonen erstellt und veröffentlicht. Es gibt jedoch auch genug offizielle Film- und Videopublikationen, die in uns den inneren Voyeuristen nähren und uns Menschen oder Situationen vorsetzen, die wir eigentlich gar nicht ansehen sollten.

Stichwort Reality TV

Die Sendungen heissen Big Brother oder Dschungelcamp und obwohl jeder behauptet, sich diese nicht anzusehen, sind die Quoten enorm. Shows, in denen sich berühmte oder auch ganz normale Bürger filmen lassen, um den Zuschauer vor dem Fernseher zu unterhalten. Das Geschäftsmodell scheint ideal zu sein: Wer Geld braucht, verkauft seine Privatsphäre, riskiert dabei womöglich aber Blamage und Scham, während sich die voyeuristischen Zuschauer die Streits, Gruppendynamik und jede Menge echtes Drama ansehen können. Ich kann mich selbst nicht davon ausklammern, dies ist mir bewusst. Gute fünf Jahre habe ich jeden Januar aktiv mitgefiebert, wenn ein gutes Duzend deutsche «Promis» sich durch den australischen Dschungel gekeift hat. Doch warum überhaupt?

Ich denke ein wesentlicher Grund war zum einen, um hinter die Fassade von den scheinbar Berühmten zu blicken. Sendungen wie diese zeigen uns ihre menschliche Seite und dass auch ihnen manchmal der Kragen platzt. Dies wäre schon ein weiterer Grund: Das Drama, welches in TV-Formaten wie Ich bin ein Star, Holt mich hier raus gezeigt wird, ist echt und ungescriptet. Ausser manchen Kunstgriffen aus der Schnitt-Abteilung ist alles genau so passiert. Und genauso wie uns die Echtheit dieser Streits zu faszinieren scheint, ist es wohl auch spannend für uns, andere, echte Ereignisse zu teilen und streamen.

Wie förderlich und sinnvoll das ist, sei dahingestellt. Dass wir uns jedoch nach und nach in eine Gesellschaft voller virtueller Gaffer entwickeln, ist nicht mehr zu übersehen.

Geschrieben von:

"Write it. Shoot it. Publish it. Crochet it. Sauté it. Whatever, Make!" - Joss Whedon

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