Die Proteste in Hongkong begannen als Widerstand gegen das umstrittene Auslieferungsgesetz. Nun scheinen die Demonstrationen gegen viel mehr zu gehen: gegen die Hongkonger Regierung, das brutale Vorgehen der Polizei und die Angst vor dem Ende der Freiheit.
«Ein Land, zwei Systeme.» Das war die Formel, die der chinesischen Sonderverwaltungszone Hongkong 1997 ihren inneren autonomen Status zusprach. Ziel war es, die Systeme Chinas und Hongkongs innerhalb von 50 Jahren anzugleichen, damit es irgendwann «Ein Land, ein System» heisst. Solange hat Hongkong sein eigenes Rechtssystem und seine Bürger dürfen, im Gegensatz zu denen der Volksrepublik China, Grundrechte wie Meinungs- und Pressefreiheit geniessen. 22 Jahre später ist klar: Die Hongkonger Bevölkerung scheint von einer Assimilierung Meilen weit weg zu sein. Viel mehr verstärkt sich der Widerstand gegen die chinesische Regierung, die sich viel zu stark in die Hongkonger Politik einmische. Seit der geplanten Einführung des Auslieferungsgesetzes ist die Situation ausser Kontrolle.
Auslieferungsgesetz als Chance für Peking
Das umstrittene Auslieferungsgesetz soll die momentanen Probleme bei der Auslieferung von Angeklagten aus der Welt schaffen. So liegt zwischen Hongkong, Taiwan, der Sonderverwaltungszone Macau und der Volksrepublik China kein Auslieferungsabkommen vor. Konkret bedeutet das, dass Hongkong geflüchtete Kriminelle nicht an die betroffenen Länder ausliefern kann. Das macht Hongkong zu einem sicheren Hafen für Menschen, die verdächtigt werden, eine Straftat begangen zu haben. Mit dem geplanten Auslieferungsgesetz könnte Hongkong Verdächtige ohne Auslieferungsabkommen in die erwähnten Länder ausliefern lassen. Die Gegner befürchten, dass Peking dies für politische Zwecke ausnutzen und dadurch unter fragwürdigen Argumenten die Auslieferung bestimmter Personen fordern könnte. In Gefahr sehen sich vor allem Staatskritiker, Menschenrechtsaktivisten und Angehörige ethnischer Minderheiten und religiöser Gruppen, die in China verfolgt werden. Ausserdem sehen die Gegner in diesem Gesetz eine Möglichkeit für das kommunistisch regierte China, Hongkong unter Druck zu setzen und den Zerfall der «Zwei Systeme in einem Land» voranzutreiben. Aus diesem Grund wird in Hongkong schon seit circa zehn Wochen gegen das geplante Gesetz demonstriert. Denn in der Volksrepublik sieht ein Grossteil der Hongkonger Bevölkerung eine Gefahr für ihre Freiheit: In China wurden seit Mao Zedongs Machtübernahme 1949 bis zu 50 Millionen Leute in Arbeitslagern inhaftiert. Diese Arbeitslager gelten als grösstes System für Folter, Gehirnwäsche und Zwangsarbeit, welches je existiert hat. Bereits als Bürgerrechtsaktivist oder Teil einer Minderheit kann man verhaftet werden.
Der Kampf gegen die Regierung
Am 28. April fand in Hongkong die grösste Demonstration seit Langem statt. Offiziell versammelten sich 22’000 Menschen, laut Organisatoren sogar 130’000, die gegen das Auslieferungsgesetz protestierten. Gelbe Regenschirme dienten als Zeichen des Widerstands: Sie wurden aus Solidarität für die Anführer der «Regenschirm-Bewegung» verwendet. Die Anführer der Bewegung, die 2014 mehr Demokratie und freie Wahlen in Hongkong gefordert hatte, wurden im April zu bis zu 16 Monaten Haft verurteilt. Die gelben Regenschirme wurden damals als Schutz gegen das von der Polizei versprühte Tränengas benutzt. Die Proteste halten bis heute an. Am vergangenen Montag und Dienstag mussten aufgrund von Demonstrationen im Hongkonger Flughafen alle Flüge gestrichen werden.
Die Proteste scheinen aber langsam um viel mehr, als nur um das Auslieferungsgesetz zu gehen. Die Demonstranten verlangen den Rücktritt von der Regierungschefin Carrie Lam, die sich bis jetzt für das Gesetz einsetzt und der seit ihrem Amtsantritt Nähe zu Peking vorgeworfen wird. «Was sie in Zukunft erwartet, ist das Schwert des Gesetzes», droht die Hongkonger Regierung bereits. Die Proteste richten sich aber auch gegen das Vorgehen der Polizei, die mit Gewalt gegen die Demonstranten vorgeht. Die UNO warnt bereits vor tödlichen Auseinandersetzungen. Erst vor Kurzem wurde einer Frau ins Auge geschossen; sie ist nun einseitig blind. Aus diesem Grund werden bei Protesten Bilder der verwundeten Frau in die Luft gestreckt oder rote Augenbinden getragen.
Wenig Hoffnung für Hongkongs Bürger
Obwohl Lam das Gesetz für «tot» erklärte, scheint es nicht so, als wäre es nun endgültig vorbei. Formell wurde das Gesetz noch nicht zurückgenommen. Es handelt sich viel mehr um einen Gesetzaufschub. Trotz des starken Widerstandes der Bevölkerung sieht es nicht aus, als würde die Regierung vom Gesetz abgeneigt sein. Da es sowieso nur für Schwerverbrecher gelten und die Richter einzeln über die Auslieferungen bestimmen würden, müsste man keine Bedenken haben. Die Frage scheint viel mehr zu sein, ob es sich hier wirklich nur um eine vereinfachte Auslieferung handelt oder doch um eine politische Annäherung zur Volksrepublik China: Denn früher war Hongkong aufgrund Chinas intransparentem Justizsystem und den verhängten Todesstrafen gegen jegliche Auslieferungen an die Volksrepublik.