Die letzten sechs Monate verbrachte ich in Indien. In dieser dreiteiligen Serie schaue ich auf meine Erfahrungen zurück. Heute: Leben mit einer indischen Gastfamilie.


Das schummrige Licht der Glühbirne mag die Dunkelheit der Nacht noch nicht aus der Küche verdrängen. Mutter steht am Herd – die Augen müde, ihr langes Haar noch ein wenig zerzaust – und rollt kleine Weizenteigklumpen zu Chapatis aus. Mit blosser Hand nimmt sie die Fladenbrote von der heissen Eisenplatte, während draussen die Sonne aufgeht und ein weiterer Tag im Trubel der indischen Grossstadt seinen Anfang nimmt. Etwas verschlafen gesellt sich ihr Ehemann dazu und nimmt hastig einen Happen zu sich.

Hausaufgaben unter der Strassenlaterne

Gleich wird er das Haus überstürzt verlassen und zur Baustelle seines neusten Immobilienprojekts hinausfahren. Vater verkörpert die in den letzten Jahrzehnten neu entstandene indische Mittelschicht. Er erzählt gerne von seinem Aufstieg. Von den Anfängen im ländlichen Indien, wo er in ärmlichen Verhältnissen aufwuchs und nachts unter der einzigen Strassenlaterne des Dorfes seine Hausaufgaben machte. Später kam er nach Pune – damals im Vergleich zu heute eine Kleinstadt. Tagsüber studierte er, nachts arbeitete er, um sich das Studium zu finanzieren. Noch heute sitzt er oft bis spät in die Nacht in seinem Büro. Die harten Zeiten haben ihn zum Workaholic gemacht, sagt er.

Vormittags erledigt Mutter Hausarbeiten und sitzt etwas gelangweilt im Wohnzimmer; vor allem aber wartet sie auf die Rückkehr der Kinder aus der Schule. Klar sei sie dankbar für dieses Leben, in einem so grossen Haus mit allen Annehmlichkeiten, wenn sie an die kargen Verhältnisse aus ihrer Kindheit denke. Doch sie fühlt sich oft isoliert in der identitätslosen Grossstadt, wo sie niemanden kennt, ausser ihrer Schwiegermutter, die ihr während den langen Vormittagen als Einzige Gesellschaft leistet. Sie denkt an ihre Familie, die noch immer im Dorf lebt.

Mutter kommt aus einem 1000-Seelen-Kaff, das vom Fischfang des nahegelegenen Sees und der Landwirtschaft lebt. In der Nähe betreibt der in Basel sesshafte Agrochemiekonzern Syngenta zwar eine Forschungsstation für Hybrid-Saatgut, doch um dort zu arbeiten fehlt den meisten Dorfbewohnern die nötige Bildung. Stattdessen bestellen sie ihre eigenen Äcker. Die Tage beginnen vor Sonnenaufgang und enden früh abends, wenn sich die ganze Familie erschöpft auf den dünnen Matten ausruht. Man sieht, dass Mutter seit Jahren nicht mehr im Dorf lebt. Sie ist besser genährt und weniger gebräunt als ihre Schwestern, die unter der Sonne harte Feldarbeit verrichten.

Wer sich widersetzt, fliegt

Auch Mutter arbeitete damals als Erntehilfe in der Landwirtschaft. Bis eines Tages ihr zukünftiger Ehemann kam und bei den Eltern um ihre Hand anhielt. Sie war damals anfangs zwanzig. Er, mehr als doppelt so alt, wollte ein Jahrzehnt nach dem Tod seiner ersten Frau nochmals heiraten. So fuhr er durch die Provinz und besuchte unzählige Familien aus der gleichen Kaste, die ihre Töchter vermählen wollten. Für sie kehrte er zurück. Vater verzichtete damals auf die sonst übliche Mitgift, bezahlte gar die Hochzeit. Eine enorme finanzielle Entlastung für ihre Familie.

Die arrangierte Ehe: Was im Westen oft automatisch als Zwangsheirat angesehen wird, ist im ländlichen Indien noch immer Alltag. Mutter zeigt stolz das Hochzeitsalbum ihrer Nichte. Mit 17 wurde sie verheiratet, vor Kurzem hat sie ihr erstes Kind geboren. Keine der Frauen äussert sich negativ über ihr Leben. Wie sollten sie auch? Sie kennen es nicht anders. Wer sich dem Willen des männlichen Familienoberhauptes widersetzt, hat nichts mehr zu sagen. Vaters Tochter aus der ersten Ehe hat sich für eine Liebesheirat mit einem Mann aus einer anderen Kaste entschieden hat. Seither hat er den Kontakt zu seiner Tochter vollständig abgebrochen.

Ihr Bruder, das zweite Kind aus der ersten Ehe des Vaters, ist pragmatischer. Heiraten wird er ein Mädchen aus derselben Kaste. Wie zehntausende von anderen Männern in seinem Alter studiert er dem Vater zuliebe Ingenieurwissenschaften. Die jährlichen Flut an Ingenieuren von indischen Universitäten kann längst nicht mehr in den Arbeitsmarkt integriert werden. Viele bleiben arbeitslos oder in Positionen, für die sie überqualifiziert sind. Das Geschäft des Vaters übernehmen, ist das einzige Ziel, das er hat. Haben darf. Gerne würde er Musiker werden, sagt er. Doch dass ihm dieser Traum wohl verwehrt bleiben wird, weiss er selbst.

Diese Erfahrung war dank der Unterstützung von Global Citizen Year möglich. Einen herzlichen Dank an dieser Stelle.


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