Die letzten sechs Monate verbrachte ich in Indien. In dieser dreiteiligen Serie schaue ich auf meine Erfahrungen zurück. Heute: Ein Einblick ins öffentliche Schulsystem der grössten Demokratie der Welt.
Auf einem Kiesplatz vor einem trostlosen Betonblock stehen Hunderte Kinder in Uniform und singen die Hymne ihres indischen Heimatlandes. Es sind die Schüler einer öffentlichen Schule inmitten der 7-Millionen-Metropole Pune, drei Autostunden von Mumbai entfernt. Wie so einiges trügt die friedliche Atmosphäre des morgendlichen Rituals. Sie wird sich, sobald die Schüler das Gebäude betreten, in ein lautes Chaos verwandeln. In der Schule geht es, trotz Benennung nach dem maharashtrischen Widerstandskämpfer Lahuji Salve, selten heroisch zu und her. Und der Namenszusatz «E-learning School» bezieht sich auf einige funktionsgestörte Computer und Fernseher, die hier und dort in den Klassenzimmern herumstehen. Hier verbringe ich meine Tage als überforderter Hilfslehrer.
Im Innern des Gebäudes tobt unterdessen der tägliche Kampf um Aufmerksamkeit. Einige Lehrer reden mit drohender Stimme auf ihre Schützlinge ein, andere haben bereits aufgegeben und überlassen die Schüler ihrem Schicksal. Produktiv gearbeitet wird nur selten. Die Ursachen dafür sind zahlreich – und gründen tiefer als es die marode Infrastruktur oder die mit bis zu 50 Schülern völlig überfüllten Klassenzimmer auf den ersten Blick vermuten lassen.
Das Kolonialerbe liegt schwer
Indien ist jung. Über die Hälfte der Einwohner des zweitbevölkerungsreichsten Landes der Welt ist unter 25 Jahre alt, mehr als ein Viertel gar unter 14. Von den mehr als 170 Millionen Schulkindern besucht mehr als ein Drittel eine private Schule. Wer es sich leisten kann, tut dies. Es ist eine regelrechte Industrie entstanden, die den Zugang zu einer Qualitätsbildung teuer verkauft. Zurück bleiben die Kinder am Ende der sozioökonomischen Leiter in einem hoffnungslos unterfinanzierten öffentlichen Bildungssystem, das noch immer auf dem kolonialen Erbe der Briten beruht.
Das Beherrschen der englischen Sprache ist heute Bedingung für den professionellen Erfolg – die gut bezahlten Jobs sind nur bei internationalen Konzernen zu finden. So ist auch das öffentliche Schulsystem völlig auf die Kolonialsprache ausgerichtet: Die Unterrichtssprache, Schulbücher, Prüfungen; alles ist auf Englisch. Und trotzdem: Der Grossteil der Schüler wird bis zum Ende der obligatorischen Schulzeit nur Anfängerkenntnisse haben. Jeder zweite Fünftklässler kann weder einen Text für Zweitklässler verstehen, noch eine einfache Subtraktionsrechnung lösen. Ein Blick in eine typische Lektion zeigt warum. Die Lehrperson, die oft selbst nur über beschränkte Englischkenntnisse verfügt, schreibt an die Wandtafel, und die Schüler kopieren in ihre Hefter, ohne den Stoff zu verstehen, geschweige denn sich mit ihm auseinanderzusetzen.
Doch der Staat schaut lieber weg. Eine Lehrerin erzählt mir, wie sie die Resultate staatlicher Examen regelmässig fälscht, um die Vorgaben des Bildungsministeriums zu erfüllen. Es bleibt ihr keine andere Wahl – der Schule würden sonst die Mittel gestrichen, weil die Schüler die Lernziele nicht erreicht haben. Doch damit nicht genug: Durch den Englisch-Fokus beherrschen die meisten Schüler das eigene Schriftsystem Devanagari und damit Indiens Amtssprache Hindi nur beschränkt, womit ein Grossteil des indischen Kulturguts in Vergessenheit zu geraten droht.
Schwierige Familienverhältnisse
Wer das Schulareal verlässt und für einige Minuten der Hauptstrasse und ihrem nimmerruhenden Verkehr entlangläuft, dem fallen die zahlreichen ärmlichen Baracken auf, die neben luxuriösen Bauten westlicher Konzerne stehen. Wenig entfernt thront eines der grössten Hochsicherheitsgefängnisse Südasiens, dessen «Schatten eine düstere Atmosphäre auf den ganzen Bezirk wirft», wie es ein Lehrer an der Schule ausdrückt. In diesem Umfeld der krassen Kontraste lebt die Mehrheit der Schüler. Die meisten von ihnen wohnen mit zahlreichen Mitgliedern der erweiterten Familie auf kleinstem Raum, ohne jegliche Privatsphäre – kein Ort zum Lernen. Sie passen auf die Jüngsten auf, die Eltern rackern sich in den wohlhabenden Quartieren zu einem Hungerlohn ab, da haben Hausaufgaben keine Priorität mehr.
Sie erzählen von gewalttätigen Vätern im Alkoholrausch, dem finanziellen Ruin der Eltern, dem Tod von Familienmitgliedern. Die familiären Probleme erschweren das Lernen und wiegen schwer auf ihren schmalen Schultern. Mit der Hoffnungslosigkeit von zuhause konfrontiert, fehlt ihnen oft das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und der Glaube an eine bessere Zukunft.
Die Hoffnung lebt
So verzweifelt die Lage auch sein mag, es gibt Hoffnung. Seit einigen Jahren springen immer mehr Nichtregierungsorganisationen für den Staat in die Bresche und versuchen, den Bildungszugang für die Bedürftigen zu verbessern. Teach for India zum Beispiel bringt Universitätsabgänger für zwei Jahre in Indiens öffentliche Schulen. Dort geben sie den Kindern nicht nur die nötige Unterstützung zum schulischen Erfolg, sondern sammeln auch wertvolle Erfahrung, die ihnen in späteren Projekten hilfreich sein wird. So starten Programmabgänger eigene NGOs und Schulen oder beginnen, für die Regierung zu arbeiten.
Zwar haben in den ersten zehn Jahren nur einige zehntausend Schüler von dem Angebot profitieren können, was in Anbetracht indischer Dimensionen nicht mehr als ein Tropfen auf den heissen Stein ist. Doch alle haben sie den festen Glauben, dass eine Qualitätsbildung, das Leben jedes einzelnen Kindes, und damit eine gesamte Gesellschaft verändern kann. Und dafür kämpfen sie – jeden Tag.
Diese Erfahrung war dank der Unterstützung von Global Citizen Year möglich. Einen herzlichen Dank an dieser Stelle.