Für viele Menschen in Europa kam der Krieg in der Ukraine überraschend. War er wirklich überraschend, wie hat sich das Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine im Laufe der Zeit verändert und weshalb ist es nicht nur «Putins Krieg»? Der Historiker Radomyr Mokryk gibt Einblick.

Der zweite Teil der Ukraine-Konflikt-Reihe handelt von der Geschichte Ukraine und der Entstehung des aktuellen Krieges. Im ersten Teil erfährst du mehr über die ukrainische Kultur.

Warum ist es nicht nur «Putins» Krieg?

Radomyr Mokryk: «Das ist eine gute Frage. Wenn man die Geschichte und die Beziehung zwischen Russland und der Ukraine genau untersucht, kommt man zum Schluss, dass die Spannungen schon vor Jahrhunderten angefangen haben. Ich werde jetzt ins Detail gehen. Das ist wichtig, damit man die Zusammenhänge versteht.

Eigentlich fangen die Konflikte zwischen Russland und der Ukraine bereits im 17. Jahrhundert an, als der Rat von Perejaslaw im Jahr 1654 stattgefunden hat. Das war eine Verhandlung zwischen dem Kosakenstaat, welcher jetzt zur Ukraine gehört, und dem Moskauer Zarenreich, also mit Russland. In Perejaslaw wurde vereinbart, dass das ukrainische Gebiet zu einem autonomen Protektorat werden solle, welches von Russland militärische Unterstützung erhalte. Bis heute streiten sich die Historiker, welche Vereinbarungen damals wirklich unterschrieben wurden. Einer der Folgen war, dass die Ukraine zu einem Teil des Moskauer Zarenreiches wurde, was einer Kolonie gleich kommt.

Seit dieser Zeit dauert der Konflikt an. Es gab grossen Druck gegen die ukrainische Autonomie seitens Russlands. Zudem folgten Kosakenaufstände. Der grösste Aufstand fand unter der Führung von Hetman Iwan Mesepa statt, welcher mit Schweden gegen Russland gekämpft hatte.

Die Autonomie der Kosaken wurde während der Zeit von Katharina der Grossen aufgelöst. Im 20. Jahrhundert wurde die ukrainische Sprache im Russischen Reich verboten. Die Menschen, die die Traditionen und Werte weiterhin pflegten, wurden verhaftet.

Warum erzähle ich das nun alles? Die Konfrontationen, Kriege und Spannungen zwischen der Ukraine und Russland dauern schon 350 Jahre lang an. Diese Beziehung ist eine koloniale Beziehung. Das ist nicht nur meine Ansicht. Viele unabhängige Forscher und Akademiker sind der Meinung, dass das Russische Reich ein Imperium war, das sich die Ukraine und andere Länder einverleibte, die geografische Nachbarn Russlands waren.

Denkmal des Taras Schewtschenko, ein bekannter ukrainischer Lyriker, in Borodjanka

Die Geschichte setzte sich in der Zeit der Sowjetunion fort. Die Sowjetunion ist der Nachfolger des russischen Zarenreiches. Die Ukraine kam in eine ähnliche Lage wie zur Zeit der Zaren. Es gab einen Druck auf die ukrainische Sprache und die ukrainische Identität. Die nationale Opposition wurde verhaftet usw.»

Die Stereotypen der Kolonisation

Radomyr Mokryk: «In der russischen Kultur und in der russischen Gesellschaft gibt es viele koloniale und imperiale Elemente. Du hast bestimmt schon einmal von Tolstoi, Bunin und Turgenev gehört. In der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts wurden die Ukrainer oftmals abschätzig charakterisiert. Sie wurden als minderwertige und einfache Idioten dargestellt.

Dieser Stereotyp funktioniert wirklich immer noch gleich, im Sinne dass die Kolonie d.h. die Ukrainer, der Metropole untergeordnet sein müssen. In der Vision vieler Russen hat die Ukraine einen kleineren Wert und gehört Russland an. Dies wurde im 19 und 20. und Jahrhundert in Moskau und in der russischen Gesellschaft sowie in der russischen Politik kultiviert.  Deswegen sage ich: Als Putin der Ukraine den Krieg erklärt hatte, war die russische Gesellschaft begeistert.

Ein paar Tage vor dem 24. Februar 2022 verbreitete die russische Propaganda das Narrativ, dass sie Kiew innerhalb von 3 Tagen erobern werden. Das ist sehr typisch. Denn die sogenannten russischen Journalisten unterliegen den kolonialen Stereotypen. Sie glaubten, dass in Kiew ein paar minderwertige Jungs sitzen würden und es in der Ukraine keinen Widerstand gäbe. Diese Stereotypisierung durchdringt die russische Gesellschaft durch und durch.

Infobox:
Ein Narrativ ist z. Bsp. eine Geschichte, die etwas rechtfertig. Somit beeinflusst ein Narrativ die Gesellschaft.
Quelle: https://studyflix.de/geschichte/narrativ-5966

Es ist nicht nur Putins Krieg. Vielmehr hat Putin die Vorstellungen ausgenutzt, die schon lange in der russischen Gesellschaft vorhanden waren. Er gab den kleinen Anstoss. Die Unterstützung der russischen Gesellschaft hierfür war gross. Aber sie ist gesunken, denn es war nicht so leicht, wie sie vor einem Jahr dachten. Er hat den Knopf gedrückt und die russische Gesellschaft war begeistert. Ein Imperium hat gerne Kriege. Ein Eroberungskrieg macht die Russen zufrieden. Nicht alle, aber viele sind der Ansicht, dass die Ukraine schon immer Russland gehört habe. Daher sind sie überzeugt, dass die Landeroberung richtig sei.»

Der Krieg kam eigentlich nicht überraschend. Was hat es voraussehbar gemacht?

Radomyr Mokryk: «Es gibt zwei Perspektiven. Die erste ist die historische Entwicklung der Beziehung zwischen der Ukraine und Russland. Diese zeigt, dass es früher oder später zu einem Krieg kommen musste. Um es zusammenfassen: Moskau ist überzeugt , dass Kiew ihnen gehört. Auf der anderen Seite, nach der Annexion der Krim im Jahr 2014, war es offensichtlich, dass es früher oder später zu einem Krieg kommen muss. Eine Eroberung von ein paar Städten im Osten der Ukraine würde nichts lösen. Es war ein Faktor der im Jahre 2014 und 2015 die Ukraine destabilisierte. Es war offensichtlich, dass es nur ein Anfang war und es gab eine Erwartung, dass etwas folgt. Niemand hat erwartet, dass es acht Jahre lang dauern wird, bis Putin sich zu einem massiven Angriff durchringt. Bis heute kann niemand sagen, warum Putin am 24. Februar 2022 entschieden hat, die Ukraine anzugreifen. Bis heute wird es diskutiert und ich habe noch keine plausible Antwort gehört.

Infobox:
Die Annexion der Krim: Im Jahre 2014 besetzte Russland die ukrainische Halbinsel Krim. Daraufhin gab es ein Referendum, welches sehr umstritten war: Es ging um, ob die Krim zu Russland oder zum Teil der Ukraine gehören wird. Aber man konnte nicht abstimmen, dass die Krim als eine Autonome Republik bei der Ukraine bleibt. Die Ergebnisse der Abstimmung waren zweifelhaft. Putin hat einen Vertrag unterzeichnet, in dem stand, dass die Krim zu Russland gehört.
Quelle: https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/287565/vor-fuenf-jahren-russlands-annexion-der-krim/

Für mich als Historiker ist es sehr wichtig, dass im Juli 2021 auf der offiziellen Website des Kremls ein Artikel veröffentlicht wurde, der von Putin gewesen ist, d.h. von Putin unterzeichnet wurde. Im Artikel ging es um die Vereinigung des ukrainischen und russischen Volkes, was bedeutet, dass sie diese Rhetorik über die Einheit an die Öffentlichkeit gebracht haben. Die Verbundenheit der beiden Ländern wurde in den Zeitungen betont. Putin wurde fleissig zitiert. Der Artikel war einfach geschrieben und im Text ging es um das historische Klischee, dass das Ukrainische nur ein Dialekt und keine Sprache sei und dass es nie eine selbstständige ukrainische Geschichte gegeben haben sollte. Er hat im Artikel ebenfalls erklärt, warum die Ukraine zu Russland gehört.»

Waren Sie überrascht?

Radomyr Mokryk: «Ich habe es nachvollziehen können, dass Russland angreift. Nach der Rede von Putin bin ich sofort in die Ukraine gefahren. Denn war es klar, dass es Krieg geben wird. Ja, ich habe es erwartet und habe damit gerechnet. Aber ich muss gestehen, dass mich das Ausmass sehr überraschte. Auch wenn du etwas rational verstehst, kannst du dir sehr schlecht vorstellen, dass auf deine Stadt Bomben fallen werden, dass du im Luftschutzraum sitzen wirst, dass vor den Aushebungsstellen für den Militärdienst die Männer in Schlangen anstehen siehst und dass es eine grosse Welle von Flüchtlingen geben wird. Wir reden über 10-12 Millionen Menschen, die flüchten. Es war schwer sich vorzustellen, dass es möglich sein könnte, dass so etwas im 21. Jahrhundert in Europa stattfinden wird. Rational habe ich verstanden, dass so etwas kommen wird, aber wenn du es siehst, dann starrst du nur.

Verlegung von liquidierter russischer Ausrüstung im Zentrum von Kiew

Haben Sie mit Personen gesprochen, die an der Front sind? Was war das Häufigste, was sie gesagt haben?

Radomyr Mokryk: «Ja, ich bin immer mit Freunden im Kontakt, die an der Front sind und ich denke, dass auch ich an die Reihe kommen könnte. Ich denke, dass die Sichtweise der Soldaten sich global nicht unterscheidet. Das ist ein Krieg und man muss kämpfen. Gleichzeitig betonen sie vor allem zwei Punkte.

Erstens, das Ethos vom Sieg, das sich im westlichen und im ukrainischen medialen Gebiet verbreitet, ist teilweise gefährlich. Alle schreiben: Die Ukraine hat ein weiteres Dorf zurückerobert und Russland zieht sich weiter zurück. Es gefährlich in dem Sinn, dass man nicht mehr die Realität wahrnimmt, dass man nicht mehr wahrnimmt, dass Russland ein grosser Feind ist, egal ob seine Armee schlecht ausgerüstet ist. Es ist ein grosser Feind, denn es hat grosse Ressourcen an Energie, militärischer Technik, Menschen usw. Wir stehen vor einer grossen Übermacht und auch mit den Ladungen der westlichen Länder, ist Russland noch immer grösser und mächtiger als die Ukraine. Es ist wichtig, dies im Kopf zu behalten.

Die zweite Sache ist mit der Wahrnehmung der Realität verbunden. Besonders, wenn du jeden Morgen die Nachrichten des Generalstabs liest. Jeden Morgen publiziert der Generalstab neue schöne angenehme Zahlen, zum Beispiel dass 750 russische Soldaten eliminiert wurden. Das ist sicherlich eine gute Zahl. Aber gleichzeitig muss uns auch klar sein, dass wenn hunderte russische Soldaten eliminiert worden sind, das auch Verluste auf der ukrainischen Seite bedeuten muss. Ein Krieg funktioniert nicht so, dass du kommen kannst und 500 Soldaten einfach so eliminieren kannst. Sicherlich sind die Verluste der Ukraine kleiner. Aber wir reden hier von hunderten Soldaten, vielleicht sogar jeden Tag. Es ist wichtig sich bewusst zu werden, dass die Ukraine wirklich blutet. Es kommt einfach in den westlichen Medien weniger zum Ausdruck. Es ist zu bedenken, dass an der Front auch Zivilisten sterben. Wir können über einen Verlust von 10‘000 oder 100‘0000 Menschen reden.

Manchmal hat man das Gefühl, dass dies aus den Medien verschwunden ist, weil die Ukraine gewinnt, wir drängen ja die Russen zurück. Der Preis hierfür ist aber ein grosser Verlust an Menschen. Ich höre von den Soldaten, dass man nicht vergessen soll, dass der Preis hierfür ihr Blut und ihr Leben ist.»

Ist das nicht auch Propaganda?

Radomyr Mokryk: «Ich würde es nicht Propaganda nennen, weil die Ukraine sofort von Anfang ehrlich mitteilte, dass sie ihre echten Verluste nicht publizieren werden. Es ist eine Strategie, die deklariert worden ist. Ich denke, dass dies richtig ist. Man muss, wenn ein Land in einer kriegerischen Situation ist, dort eine bestimmte Moral aufrecht halten. Ohne diese würde alles zusammenbrechen. In der Ukraine ist die ganze Gesellschaft mobilisiert. Es gibt eine viele freiwilliger Helfer, die fahren, Geld verschicken und alles Mögliche erledigen. Ich denke, es geht hier nicht um Propaganda, sondern um den Versuch, eine Stimmung in der Gesellschaft aufrecht zu halten. Aber auf der anderen Seite ist mir bewusst, dass es gefährlich ist, dass bei manchen Menschen eine fiktive Realität entstehen kann, in der die Ukraine schon gewonnen hat, der Krieg schon gelaufen ist und der Eindruck entsteht, dass die militärischen Kräfte der Ukraine die Russen zurückschlagen werden.

Borodjanka

Russland wird nicht aufgeben. Das Problem der Russen ist, dass sie sich keine Niederlage eingestehen können. Wenn jemand im Kreml vernünftig wäre, hätte er schon vor einem Jahr zusammengepackt, wäre gegangen und hätte sich eingestanden: Okay wir haben es übertrieben. Aber das hat Russland in seiner Geschichte noch nie getan.

Das heisst, Russland wird weiterkämpfen. Das heisst wiederum, es wird weitere Verluste ukrainischer Soldaten und Zivilsten geben. Es hört sich ein bisschen zynisch an, aber die Armee funktioniert auf menschlichen Ressourcen. Deswegen würde ich es nicht Propaganda nennen. Es ist eine offen deklarierte Strategie der Ukraine. In den westlichen Zeitungen wird geschrieben, dass die Ukraine sich weiterbewegt und wieder ein Stück Land erobert haben. Das ist die Wahrheit. Aber es gibt die andere Seite der Münze, die tragisch ist.

Im nächsten Artikel werden wir in die Zukunft schauen. Wann wird der Krieg enden? Weiter werden wir über die Haltung von Länder wie zum Beispiel von China und der Schweiz reden.

Die Bilder sind von Radomyr Mokryk.

Geschrieben von:

Svět je malý a o náhody tu není nouze.

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