Ich konnte mit einem interessanten ukrainischen Historiker über den Ukraine-Konflikt reden. Das Interview, das ich mit ihm geführt habe, ist in drei Teile aufgeteilt: Kultur, Geschichte und Gegenwart und Zukunft. In diesem Teil geht es um die ukrainische Kultur. Wie hat sie sich verändert und welchen Einfluss hat der Krieg auf sie? Fragen, die mir Radomyr Mokryk beantwortet hat. Das Gespräch habe ich am 15. April geführt, das heisst, dass manche Details nicht mehr up to date sind. Dies wird jedoch im Text erwähnt.
Können Sie sich kurz vorstellen?
Ich heisse Radomyr Mokryk und bin ein Historiker, der vor dem Ukraine-Krieg in Prag an der Karls-Universität gearbeitet hat. Sechs oder sieben Jahre lang war ich an der Universität und habe Vorträge über die ukrainische Geschichte gehalten. Ich habe Artikel und ein Buch (Hovory o Ukrajině) über die Ukraine geschrieben, ein weiteres wird bald veröffentlicht. Heute gebe ich Fernunterricht.
Was haben Sie seit dem Ukraine-Krieg gemacht?
Radomyr Mokryk: «Am 22. Februar 2022 hat Putin eine Rede gehalten, in der er die sogenannte spezielle militärische Operation angekündigt hat. Da die ganze russische Rhetorik darauf hindeutete, dass ein grosser Krieg anfangen wird und weil ich militärpflichtig bin und somit mobilisiert werden kann, bin ich am nächsten Tag mit dem Bus in die Ukraine gefahren.
Als ich die Grenze überschritten habe, fing der Krieg an. Ich bin zum Einwohnermeldeamt gegangen und habe mich angemeldet. Jetzt habe ich so zu sagen «frei». Sie zählen auf mich, aber ich warte, bis ich an die Reihe komme. Innerhalb dieser 14 Monate seit Anfang des Krieges habe ich, soweit möglich, die ganze Ukraine bereist, Geschichten gesammelt und mit Leuten geredet. Ich war in der westlichen Ukraine, zum Beispiel in Lwiw, wo ich herkomme. In Butscha, Borodyanka, Irpin, Odessa, Mykolajiv und Charkow bin ich auch gewesen. Ich wollte alles mit eigenen Augen sehen. Die meiste Zeit verbringe ich aber in Kiew.
Ich habe sehr viele Texte über die ukrainische Geschichte und über Augenzeugenberichte russischer Verbrechen, die ich oder andere gesehen haben, geschrieben. Um es zusammen zu fassen: Ich erzähle aus der Ukraine für die westlichen Medien die Geschichte der Ukraine.»
Wie sah Ukraine vor dem Krieg aus, also kulturell?
Radomyr Mokryk: «Nach der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine nach dem Zerfall der Sowjetunion im Jahr 1991 blieb der Einfluss des russischen Imperialismus und der russischen Kultur in den Menschen verankert. Ein Grosser Teil der ukrainischen Subkultur war von russischem Geld, von Russland usw. beeinflusst. In der Praxis vereinfacht gesagt, im Radio liefen zur Hälfte russische Lieder. Im Fernseher liefen russische Filme und Serien. Es wurden russische Bücher veröffentlicht. Die Ukraine hat keinen kulturellen Aufbruch geschafft oder die Menschen haben gedacht, dass die Kultur keine wichtige Bedeutung hat, aber sie hat in Wirklichkeit eine grosse Bedeutung. Mit der Zeit wurden ukrainische Elemente gefördert und es wurde immer besser. Aber selbstverständlich war der Ausbruch des Krieges ein Punkt, wo sich die Kultur verändert hat.
Aber um wieder zurückzukommen, die Ukraine ist nicht völlig russifiziert gewesen. Es fanden viele spontane Aktivitäten statt, die die ukrainische Kultur trugen, zum Beispiel Autoren, aber in einem Teil war die Subkultur russifiziert.»
Hat sich die Kultur in der Ukraine verändert?
Radomyr Mokryk: «Sicher, die Kultur hat sich extrem verändert. Ab Februar 2022 wurde selbstverständlich das Thema Krieg zu einem Schlüsselthema. Es wurde in Liedern, in den Theaterszenen, in der Kinographie und in der Literatur aufgenommen. Die Autoren arbeiten mit diesem Krieg. Das heisst, sie bearbeiten das Trauma des Kriegs, traumatische Syndrome und die Kämpfe an der östlichen Front. Das alles widerspiegelt sich in diesen kulturellen Phänomen. Man kann sagen, dass es in der Ukraine eine grosse Bemühung gibt, sich von Russland loszubinden.
Ein interessanter Punkt ist, dass im letzten Jahr alle Besteller in der Ukraine von der Geschichte der Ukraine handelten. Das heisst, die Menschen interessieren sich auf einmal für die Geschichte. Viele Menschen wussten nicht, warum es zu diesem Krieg gekommen ist. Sie haben nicht verstanden, dass dieser Krieg nicht aufgehalten werden konnte und wie die Beziehung zwischen der Ukraine und Russland vor dem Krieg war. Jetzt versuchen sie es zu verstehen, warum es passiert ist, welche Ursachen dazu führten und was für einen historischen Hintergrund das Ganze hat.
Eine Sache muss man noch erwähnen: Ein Grossteil der kulturellen Einrichtungen ist zerstört oder beschädigt worden und wurde zu einer Zielscheibe russischer Raketen. Es gibt Vorfälle, wo die Museen ausgebraubt worden sind, zum Beispiel in Cherson, wo die Okkupanten alles was möglich war nach Russland mitgenommen haben. Viele Galerien wurden bombardiert. Aber selbstverständlich sind Menschen, die für die Kultur tätig sind, an der Front. Zum Beispiel Musiker, Schauspieler oder Filmmacher, die entweder schon gefallen sind oder an der Front kämpfen. Das heisst, auch die menschlichen Ressourcen der Kultur werden weniger.
Um es zusammenfassen, der kulturelle Schub ist gross, um wieder zurück nach Europa zu kommen und zu versuchen, vom Einfluss Russlands frei zu werden.»
Welche Rolle spielt die Sprache?
Radomyr Mokryk: «In der Ukraine gab es immer eine Mehrheit von Ukrainisch sprechenden Menschen. Das haben gesellschaftliche Studien bewiesen. Aber das Wichtigste ist, auf der sprachlichen Ebene zu verstehen, dass während des 19. und 20. Jahrhunderts die Ukraine von Russland massiv russifiziert worden ist. Das heisst ihre Politik war auf die Russifizierung der ukrainischen Bevölkerung ausgerichtet.
Das führte dazu, dass die Opposition in der Sowjetunion in den 60er und 70er Jahren vornehmlich aus ukrainischem Dissens und deren Menschenrechtsbewegung bestand. Die politischen Gefangenen haben gegen die Unterdrückung der ukrainischen Sprache gekämpft.
Infobox: Dissens bedeutet, dass es zwischen mehreren Parteien Meinungsverschiedenheiten gibt. Quelle: https://www.duden.de/rechtschreibung/Dissens |
Die Sowjetunion versuchte eine kulturelle Assimilation der Ukrainer durchzuführen und die ukrainische Sprache aus der Öffentlichkeit zu verbannen. Deshalb war dieses sprachliche Problem zur Sowjetzeit so brennend.
Infobox: Assimilation ist ein Prozess, wo ein Mensch oder eine ganze Bevölkerung ihre kulturelle Identität aufgibt. Sie nehmen die neue Kultur oder Sprache auf. Quelle: https://www.helles-koepfchen.de/artikel/3692.html |
Das heisst nach 1991, nach dem Untergang der Sowjetunion, war das russische bei einem Teil der Bevölkerung so gefestigt, dass sie es nicht als ein Problem gesehen haben. Warum muss man die Sprache ändern, wenn die Eltern und Grosseltern Russisch reden? Trotzdem hat ein Teil der Menschen, die Russisch gesprochen haben, zur ukrainischen Sprache gewechselt.
Wenn ich über das Thema spreche, hört es sich so an, als ob die Ukraine russisch sprechend war. Aber dem war nicht so. Es war die Minderheit, die hauptsächlich im Osten und Norden lebt, mit einem Prozentanteil zwischen 30% und 25%. Aber in ukrainischen Verhältnissen bedeutet dies, dass Millionen Menschen jetzt entschieden haben, ukrainisch zu lernen und zu sprechen. Meistens ist es eine symbolische Geste. Es ist die Haltung: Ich will mit den Russen nichts gemeinsam haben, auch nicht deren Sprache, die meine Grossmutter oder mein Grossvater gesprochen haben.
Was aber wichtig zu sagen ist: Das wird nicht vom Staat geführt und es dies ist keine staatliche Politik. Es ist die Bemühung der Menschen, die jemanden im Krieg verloren haben oder deren Haus bombardiert wurde. Sie versuchen russisch aus ihrer Umgebung rauszudrücken.»
Wie würden Sie die Atmosphäre zwischen den Menschen in der Ukraine beschreiben?
Radomyr Mokryk: «Die Atmosphäre zwischen den Leuten in der Ukraine hat sich innerhalb der letzten 14 Monate nicht geändert. Es gibt einen klaren Willen zum Siegen und alle sind der gleichen Meinung, dass die Russen kamen, um die Ukraine zu zerstören. Das Ziel dieser sogenannten militärischen Operation, welche Russland mit der Eroberung des Donbass und ein paar Städten in Osten deklariert hat, ist ein Unsinn. Sie kamen, um die Ukraine als Staat zu zerstören. Dies zeigt die Rhetorik von Putin und hauptsächlich die von Dmitri Medwedew, der verrückt worden ist.
Infobox: Dmitri Anatoljewitsch Medwedew ist ein russischer Politiker, der als Befürworter Putins gilt. Er war Vize-Präsident, Präsident Russlands und Ministerpräsident der Russischen Föderation. Seit Beginn des Kriegs ist er anti-ukrainisch. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Dmitri_Anatoljewitsch_Medwedew |
Aber auch das Verhalten der russischen Soldaten in den eroberten Gebieten, zum Beispiel im Kiew Bezirk, zeigt die Absichten Russlands. Die Massaker in Butschi und Irpin, die gefundenen Massengräber in Issum im Charkowbezirk und die Folterkammern in Cherson zeigen, dass sie gekommen sind, um die ukrainische Kultur zu zerstören. Offensichtlich soll ein Teil der Bevölkerung assimiliert werden. Wer kritisiert, wird eliminiert. Deswegen gibt es in der Bevölkerung ein klares Verständnis, dass es keine andere Möglichkeit, gibt als zu Siegen. Und das verstehen hier alle.
Ich weiss, im Westen hört man Forderungen nach Verhandlungen und jeder will Frieden. Die Ukraine will auch Frieden, aber sie hat die Erfahrung gemacht, dass ein Frieden Russland hilft, noch mehr Menschen zu mobilisieren und danach den Krieg weiterzuführen, also ist ein Frieden im Sinne eines Waffenstillstands nicht möglich.
Das heisst also, die Ukraine muss siegen?
Radomyr Mokryk: «Ja. Gesellschaftliche Studien haben bewiesen, dass 91 % der Bevölkerung überzeugt sind, dass die Ukraine gewinnen muss. Für die Ukraine heisst ein Sieg Folgendes: Die Erneuerung der Grenzen von 1991, das heisst mit der Krim, also mit den offiziellen international anerkannten Grenzen. Weiter ist eine Form der Demilitarisierung Russlands notwendig. Denn wir wissen, wenn der Krieg irgendwie endet, zum Beispiel nächste Woche, ist das nur eine Pause oder ein Luftholen bevor Russland wieder angreift. Aber dann werden sie besser vorbereitet sein als im Februar 2022, als Russland die Ukraine unterschätzt hat. Sie wollten es im Februar 2022 nicht wahrhaben, dass wir so Widerstand leisten werden. Das nächste Mal werden sie mit damit rechnen.»
Welche Beziehung haben die Menschen in der Ukraine zu den Menschen, die in Russland leben?
Radomyr Mokryk: «Die Ukraine war lange Zeit Teil der Sowjetunion und ist Nachbar von Russland. Deswegen gibt es selbstverständlich familiäre Bindungen. Zum Beispiel im Chersonbezirk, der an der Grenze zu Russland liegt, leben viele Russen und Ukrainer. Im Februar 2022 haben wir, auch in meinem Umfeld, viele gleiche Situationen erlebt. Zum Beispiel meine Verwandte, die in Kiew lebt, hat ihre Mutter in Russland. Als der Krieg angefangen hat, rief sie ihre Mutter an und sagte: «Ihr bombardiert uns. In Kiew gibt es Explosionen und es fallen Bomben.» Ihre Mutter antwortet darauf: „Du lügst. Das ist nicht die Wahrheit. Hier bei uns sagen die Nachrichten, dass die militärische Operation nach Plan verläuft und nicht auf Zivilsten geschossen wird.“ Es gab Ereignisse, die andersrum waren. Da rief eine Tochter den Vater an, der in der Ukraine wohnt, und erklärte ihm, dass Putin alles richtig mache, denn in der Ukraine gebe es die Faschisten und man solle dieses Regime zerstören.
Deswegen gingen viele familiäre Bindungen kaputt. Es gibt keinen Raum für einen Kompromiss, wenn die Tochter sagt, dass die Russen die Schule bombardiert haben, aber die Mutter von der russischen Seite entgegnet: „Nein, das stimmt nicht, weil die Zeitungen nicht darüberschreiben.“ Mit so etwas kann man schwer leben. Es gab viele Menschen, die loyal zu Russland waren. Sogar nach 2014 waren 10 -15 % der Bevölkerung nicht nur pro-russisch, sondern loyal zu Russland. Aber nach diesem Jahr ist es unmöglich, dass jemand Russland bejaht. Das sieht auch der grösste Fan Russlands ein, denn wir alle haben äusserst negative Erfahrungen gemacht.
Ich lese Behauptungen in ausländischen Medien oder in den Sozialen Medien, dass alles sehr kompliziert und alles nicht eindeutig sei. Aber alles ist einfach und eindeutig. Russland hat einen souveränen Staat angegriffen und begeht Kriegsverbrechen. Das wird ein grosses Problem über viele Generationen sein. Für die Familien, die Bindungen verloren haben, und auch für die Unternehmer.
Aber das sind die Folgen eines brutalen Kriegs. Ich denke, der Stil der Kriegsführung ist das wirkliche Problem. Vielleicht, wenn die Soldaten nur versucht hätten die militärischen Stützpunkte anzugreifen, könnte es einen Raum für Diskussion geben, dass es ein Krieg von Putin ist und die Russen nicht so schlimm seien. Aber so ist es nicht. Die einfachen russischen Soldaten morden brutal. Vor einigen Tagen ging ein Video um, wo Russen einem ukrainischen Soldaten bei lebendigem Leib den Kopf abgeschnitten haben. Das macht nicht Putin, das machen die russischen Soldaten. Das alles macht es unmöglich einen Kontakt zwischen Russland und der Ukraine aufzubauen. Ich sage nicht für immer, aber sicher für ein paar Generationen. Ich bin mir sicher, dass für mehrere Jahre nichts zwischen Russland und der Ukraine laufen wird.»
Nächste Woche wird der nächste Teil von der Geschichte der Ukraine handeln. Ab wann dauert der Konflikt zwischen der Ukraine und Russland? Ist es ein langer Konflikt? Ist es wirklich nur Putins Krieg? Diese Fragen wird Radomyr Mokryk im nächsten Artikel beantworten.
Die Bilder sind von Radomyr Mokryk.