Wenn ich mir das Gehirn im nicht medizinischen Sinne vorstelle, dann sehe ich es als eine Art riesige Bibliothek. Jedes Gefühl, das jemals gefühlt wurde, jedes Ereignis, das jemals geschah, jeder Eindruck der jemals entstand und jeder Geruch, den man jemals gerochen hat, hat als Buch in einem dieser unzähligen Regalen seinen Platz gefunden. Vielleicht sind einige dieser Bücher schon lange verblasst, oder im Gegenteil: Ein paar davon sehen aus wie neu.
Schritt für Schritt ging sie den Meter hohen Bücherregalen entlang. Nach oben blickend liess sich das staubige Schild «Gefühle» sehen. Wahrscheinlich wurde dieses Abteil schon lange nicht mehr besucht. Wer kann es ihr verübeln? Mit zittrigen Händen holte sie das Buch «Freude» hervor. Eine dicke Staubschicht brachte sie zum Husten. Die Schrift auf den Seiten war schon ziemlich verblasst, einige Stellen waren schon gar nicht mehr leserlich. Das einzige, was noch gut zu lesen war, war die Definition:
Es stellten sich ihre Nackenhaare auf. Erst jetzt, beim Lesen dieser Definition merkte sie, wie selten sie dieses Gefühl in den letzten Monate empfand. Sie konnte sich nicht erklären, wie das passieren konnte. Klar, die letzten Monate waren schwer. Die Traurigkeit hing an ihr wie schwere nasse Kleider, die an der Haut kleben blieben und nicht mehr trocken werden wollten. Vielleicht aber lag es daran, dass sie auch immer mit neuem Wasser übergossen werden. Jedes noch so kleine negative Ereignis wie letzte Woche, als sie den Regenschirm zu Hause vergessen hatte, fühlt sich an wie ein riesiger Tsunami, aus dem es schwierig ist zu entkommen. Man wird einfach unter Wasser gerissen ohne zu wissen, ob man jemals wieder atmen kann.
Schnell klappte sie das Buch wieder zu. Missmutig wanderte ihr Blick über die unzähligen Bände. Sie musste leer schlucken. Jeder Schritt fühlte sich nun noch ein bisschen schwerer an als vorher. Am liebsten hätte sie kehrt gemacht, um nie wieder zurückzukommen. Doch sie wusste, dass sie nicht ewig von sich selber weglaufen konnte. Auch wenn dieser Wunsch irgendwann bei jedem mal vorkommt, so ist das eine Tatsache der Unmöglichkeit. Jetzt stellt sich die Frage, ob es gut ist, dass man nicht von sich weglaufen kann, oder ob das etwas wäre, was das Leben einfacher macht.
Als direkt unter ihren Füssen eine Synapse aktiviert wurde, rumpelte es und ein Buch fiel ihr auf den Kopf. Es war ein unfassbar schweres, dickes Buch, das aber, so wie es aussah, gut gepflegt wurde. Sie musste lachen aber gleichzeitig auch die Augen verdrehen, als der Titel sichtbar wurde: «Overthinking»
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Natürlich ist ihr genau das auf den Kopf gefallen. Wie konnte es auch anders sein? Manchmal konnte sie einfach nicht damit aufhören. Ganz egal wie sehr die Bemühung vorhanden war damit aufzuhören. Abends im Bett ist es am schlimmsten. Die Gedanken kreisen und kreisen und wollen gar nicht mehr damit aufhören. Manchmal aber gibt es auch Sachen, an die sie gerne denkt. Wie zum Beispiel letztes Silvester, als sie mit ihrem Ex in den Ski-Urlaub fuhr und sie zusammen das Leben genossen. Sie hatte ihn so sehr geliebt und jetzt ist alles vorbei. Schlimm genug, dass es ihr eh schon nicht gut ging. «Was hab ich falsch gemacht? Hätte ich die Trennung verhindern können? Vielleicht hatte er eine Neue gefunden, noch während der Beziehung. Vielleicht aber, hat er sich auch einfach ent-liebt.» Die Gedanken wollten gar nicht mehr aufhören: «Oder vielleicht habe ich ihn verletzt. Oder er konnte nicht mit mir umgehen. Oder noch schlimmer: Alles zusammen!» Ihre Beine wurden weich und sie glitt dem Regal entlang auf den Boden. Sie hat es schon wieder getan, dieses ewige Überdenken eines einzelnen Themas, bis man ganz erschöpft in sich zusammenbricht. Das grösste Problem beim overthinken ist, dass positive Sachen schnell zu negativen werden, weil man sich ausmalt wie es noch besser hätte werden können, oder bleiben können.
Eine Träne kullerte ihr über die Wange. Eine Träne… Eine Träne?! Aus den über Wochen angestauten Gefühlen entwickelte sich nun ein befreiender Heulkrampf. Selten hatte sie sich so gut und gleichzeitig aber auch so hilflos gefühlt wie jetzt. Hätte man sie in diesem Moment gefragt, was sie gerade fühlt, hätte sie wahrscheinlich nicht mal eine dieser Emotionen aufzählen können. Sie stand auf und lief und lief und lief und gelang schlussendlich zum Bücherregal «seltene Gefühle A-Z». Wo war dieses Buch nochmals? Wo hatte sie es zuletzt hingetan? Es muss wohl nach hinten gerutscht sein, als sie «wie weine ich? – Schritt für Schritt Anleitung» versorgt hat, oder am liebsten ENTsorgt hätte.
Blind tastete sie bis in die hintersten Ecken des Regals und holte schliesslich ein schmales, verstaubtes Buch hervor. «Hoffnung»
Es wurde nicht oft benutzt. Viel zu dünn und staubig lag es nun in ihren Händen. Sie beschloss, nun selber etwas hineinzuschreiben.
«Hoffnung ist das, was du fühlst, wenn du es geschafft hast wieder aufzustehen, obwohl deine Beine gebrochen wurden. Es ist ein Gefühl, das dir oft nicht einfach zugeflogen kommt, so wie Trauer wenn jemand stirbt oder Wut wenn wieder einmal nichts so läuft, wie man es sich vorgestellt hat. Hoffnung ist ein Prozess, der sich schleichend entwickelt und mit der Heilung des eigenen Ichs einhergeht. Auch wenn es sich manchmal nicht so anfühlt: Am Ende wirst du Hoffnung verspüren.»
Sie legte den Tintenfüller nieder, nahm das Buch unter ihren Arm und stieg die lange Wendeltreppe hinunter in den ersten Stock. In der Mitte der Bibliothek stand ein Sockel, auf den das Sonnenlicht fiel und der einzige Ort in dem riesigen Raum mit natürlichem Licht war. Sie ging auf ihn zu und legte dann das Buch auf die Ebene. Denn die Hoffnung ist das Zentrum, ohne das wir nicht leben können.
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Quellen: