Für alle erwachsenen Leser, die die Abkürzung Yolo nicht kennen und für alle Jugendlichen und Kinder, die diesen Begriff verwenden, ohne zu wissen, wofür er steht, einfach weil er «cool tönt»: YOLO steht für You Only Live Once. Übersetzt heisst das: Du lebst nur ein Mal. Es bedeutet, seine Chancen zu ergreifen, sich nicht zu viele Gedanken zu machen und Risiken einzugehen. Yolo ist für manche das Lebensmotto, vergleichbar mit dem früher üblichen Spruch Carpe Diem (lat. Nutze den Tag).

Es kann immer, überall und jedem etwas passieren…

Ich, die zwar die gängigen Mottos Yolo und Carpe Diem nicht verwendet, lebe doch teilweise nach diesen Prinzipien. Denn ich bin überzeugt, dass jederzeit und jedem etwas passieren kann. Das kann man zweierlei interpretieren: Entweder man schützt sich deswegen auch in vermeintlich sicheren Situationen oder man gibt sich etwas fahrlässig bei Wagnissen, weil einem ja schliesslich auch an «sicheren» Orten etwas zustossen kann.

Es ist bei mir eine Mischung, die vielleicht nicht besonders Sinn macht, aber für mich stimmt es. Der Fahrradhelm wird nicht nur bei rasanten Abfahrten getragen, sondern auch auf gemütlichen Radtouren. Hingegen wird bei Abenteuern auch Mal die Palette an Sicherheitsmassnahmen weggelassen -gehört ja irgendwie zum Abenteuer dazu.

So klettert man im Maggia-Tal auch ohne Drahtseil und Sicherheitsgurte an den Felsen herum, um danach von den Klippen ins eiskalte Nass zu springen. Ja, auch wenn man nicht angesetzt ist, schliesslich ist man sowieso wieder trocken, bis man sich endlich zu springen wagt. In der Nacht spaziert man durch einsame Gassen, von denen man weiss, dass dort bereits Messerattacken und Schiessereien stattgefunden hatten. Reisen in für Terroranschläge anfällige Städte kommen trotzdem infrage. Genauso wenig tabu sind Wandern, E-Bike fahren und Gleitschirm fliegen, auch wenn in der Zeitung regelmässig von Unfällen, bei diesen Sportarten berichtet wird.

Ich bleibe dabei: „Es kann immer etwas passieren“. Auch wenn ich in den Augen anderer als irre bezeichnet werde, wenn ich Lust habe einfach aus dem Flugzeug zu springen -mit Fallschirm, versteht sich. Irre, weil ich der Überzeugung bin, dass Spazieren auf Trottoirs, Motorradtouren über Pässe, der Besuch gewisser Fussballmatches und Paraden wohl das ziemlich gleiche Risiko wie der Fallschirmsprung tragen.

Man kann sich das Leben mit zu viel Sicherheit auch vermiesen. Das veranschaulichen am besten Eltern überbehüteter Kinder. Für diese ist eine Nacktschnecke plötzlich so gefährlich wie ein Zitteraal, ein Grasfleck auf der Kleidung so schlimm wie überträufelte Lauge und ein gelangweiltes Kind der Weltuntergang in Person. Angesichts dieser Beobachtungen tut ein bisschen Risiko und Abenteuer gut. Auch wenn es nur ein Grasfleckabenteuer ist – auf weisser Kleidung.

Die andere Seite

Auf der anderen Seite erlebt man auch immer wieder Begegnungen, die einen zu Vorsicht ermahnen. Bei mir gab es unzählige solcher Augen öffnenden Begegnungen während eines Schuljahrs als Praktikantin in einer Schule für körperlich behinderte Kinder und Jugendliche. In dieser Schule gehen zwar hauptsächlich Kinder und Jugendliche mit angeborenen Beeinträchtigungen zur Schule, doch genau diese Tatsache bestätigt die Vermutung, dass der Umgang mit einer erworbenen Behinderung noch viel schwieriger sein muss, als mit einer angeborenen. Täglich unglaubliche Herausforderungen bei einfachsten Handlungen und Aspekten des Lebens, Verzichte und wenig soziale Kontakte. Mit all dem wird man alltäglich konfrontiert und soll das psychisch verarbeiten können.

Ein Unfall mit psychischer, geistiger oder körperlicher Behinderung ist für mich abschreckender denn je. Obwohl: Der St.Galler Nils Jent, der mit 18 Jahren einen schweren Motorradunfall hatte und bei der Notoperation zwei Herzstillstände erlitten hatte, war dadurch von einem Tag zum anderen in ein komplett anderes Leben katapultiert worden. Er erwachte aus dem Koma mit einer Dreifachbehinderung. Er war blind, sprechbehindert und motorisch eingeschränkt. Trotz dieser erniedrigenden Erkenntnis trotzte er seinem Schicksal mit Motivation und unglaublicher mentaler Stärke. So erreichte Nils mehr, als ihm irgendein Arzt je zugemutet hätte. Er hat die Matura nachgeholt, an der Universität bis zum Doktortitel studiert, und lebt heute zu einem grossen Teil selbständig. Eine Behinderung bedeutet also noch lange nicht, dass das Leben fertig ausgelebt ist.

Aber Nils hat eine überdurchschnittliche innere Stärke, Motivation und Lebensdurst. Er musste immer kämpfen, aber es hat sich ausgezahlt. Er hat als Doktor und Uni-Professor viele Studenten gelehrt und auch mich, die nie bei ihm im Hörsaal gesessen hatte, beeindruckt. Was ich unter vielem Anderem in seiner Biografie gelesen habe:

„Hélène Jent (Nils Mutter) sagte zu Nils, es sei schon traurig, zu sehen, wie die Jungen auf ihren Skiern voller Schwung die Hänge hinunterkurvten, und gleichzeitig zu wissen, dass das für ihn nie mehr möglich sein wird. Da sagte er, das mache nichts, das habe er ja früher alles exzessiv ausgelebt. Früher sei er im Leben A gewesen, jetzt sei er im Leben B.“

„Wer beide Augen auf das Ziel in der Zukunft richtet, hat kein Auge mehr frei, um heute den Weg zu diesem zu sehen“- Nils Jent

Und jetzt? Ist Yolo Vergangenheit geworden?

Seit diesem Praktikumsjahr und der Lektüre von Dr. Nils Jent Biografie vom Autoren Röbi Koller, hat sich nicht etwa meine Überzeugung geändert. Ich bin immer noch der Adrenalinjunky von vorher. Ich denke immer noch „es kann immer was passieren“. Was sich aber definitiv verändert hat, ist die Dankbarkeit. Dankbarkeit dafür, dass mein Körper so vieles kann, und wenn er es nicht kann, ich es ihm gezielt antrainieren kann. Dankbarkeit dafür, dass ich bereits so Vieles erleben durfte, ohne davon Schaden zu nehmen, auch wenn Waghalsiges darunter war. Dankbarkeit dafür, dass ich alles machen kann, was ich will.

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