Ich sitze im Café um die Ecke und hoffe eigentlich nur, dass die Zeit vorbei geht. Vor einer Woche dachte ich noch, heute extrem gestresst zu sein. Gestern dann bemerkte ich, dass es mir wohl noch reichen würde, heute dieses eine Buch fertig zu lesen. Und nun sitze ich hier und weiss gar nicht mehr, was mit mir anfangen.
Eben dies ist das grosse Problem: Ich kann nichts mehr neues anfangen. Ich reise heute ab und das letzte, was ich jetzt tun sollte, ist ein neues Projekt zu beginnen. Mein Kopf soll frei sein für alle Eindrücke und Erfahrungen meiner Reise. Allerdings ist das einzige, was ich mit meinem Kopf gerade tue, ihn zu zerbrechen. Und zwar über alles. Über alles und nichts. Zumindest, bis ich auf das Gespräch aufmerksam werde, welches zwei Tische weiter weg stattfindet. Eine Dame, gross, blond, sehr natürlich, unterhält sich mit zwei Männern. Beide ungefähr im selben Alter wie sie, vielleicht etwas älter. Der eine trägt eine Brille und ein T-Shirt, während der Brillenlose eine Jeansjacke trägt. Dem Wetter ganz gut angemessen, so dünkt es mich. Die Dame jedoch scheint die heissblütigste zu sein. Sie trägt lediglich ein ärmelloses Top. Sie ist es auch, die gerade spricht. Es scheint um Festivitäten zu gehen, denn gerade verkündet sie: «Eine Motto-Party in diesem Sinne haben wir noch nie veranstaltet. Aber vor ein paar Jahren haben wir mal an Karfreitag Weihnachten gefeiert.»
Weihnachten an Karfreitag, diese Aussage, vielleicht auch nur die schiere Idee bleibt in meinen Gedanken hängen. Doch ehe ich sie in meinem Kopf weiterverfolgen kann, spricht sie weiter: «Wir haben Guetzli gemacht und Grittibänze gebacken, die Kinder hatten einen riesen Spass.»
«Schon ein wenig ketzerisch, findest du nicht?», bemerkte der Brillenträger.
«Ach komm schon, Tod und Geburt sind doch sowieso zwei Dinge, die man in einem engeren Verhältnis betrachten sollte», wandte der Mann mit der Jeans Jacke lachend ein.
Mehr bekam ich von der Unterhaltung nicht mit. Weihnachten an Karfreitag, der Gedanke war noch immer in meinem Kopf. Warum das mir nicht in den Sinn gekommen ist? Wer schreibt uns denn eigentlich vor, wann wir was zu feiern haben? Natürlich – bei Festen, welche an spezifische Daten gebunden sind, macht es Sinn, sie auch zum richtigen Zeitpunkt zu feiern. Was hält uns jedoch davon ab, es auch einmal zu vertagen? Zum Beispiel um ein ganzes Quartal?
Mir fällt ein, dass auch ich gerade Lust auf Weihnachten hätte. Würde ich nicht verreisen, ginge ich womöglich nun in meine Wohnung, würde Mehl, Zucker, Lebkuchengewürz und noch einige andere Zutaten aus dem Schrank räumen, um dann mit Backen anzufangen. Bei Spotify würde ich nach Gene Autrys Album Rudolph The Red Nosed Reindeer And Other Christmas Classics suchen, um dann bei all den Liedern mitzusingen. Bald würde sich der himmlische Geruch von Weihnachten in der ganzen Wohnung verteilen. Herrlich…
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Meine Kaffeetasse ist mittlerweile ausgetrunken und mir fällt auf, wie sehr wir Menschen doch Gewohnheitstiere sind. Weihnachten ist nur einmal im Jahr und immer zur selben Zeit. Allerdings spricht nichts dagegen, es mehrere Male im Jahr zu feiern und doch kommt nur selten jemand auf die Idee, es zu tun. Womöglich ist die grosse Blonde, welche mit den zwei Herren dort hinten am Tisch sitzt die erste, die es gewagt hat. Damit hat sie nicht nur meinen, sondern auch den Horizont ihrer Kinder erweitert, die sie scheinbar hat.
Ich stelle mir ihre Sprösslinge vor, die einmal zu weltoffenen und toleranten Erwachsenen heranreifen werden. Auf Grund ihrer frühen Konfrontation mit dem Unkonventionellen, werden sie einmal perfekt für den sich schnell wandelnden Arbeitsmarkt sein. Womöglich haben sie dadurch bessere Aufstiegschancen und werden in kürzester Zeit enorm erfolgreich sein. Ich stelle mir diese Kinder, die ich in meinem Leben nie selbst kennengelernt habe vor, wie sie eines Tages mit ihren eigenen Kindern an Karfreitag Weihnachten feiern. Und auch, wenn sie das Geld wahrscheinlich hätten, werden sie ihren eigenen Kindern nicht schon wieder etwas schenken – schliesslich war ja vor einigen Monaten bereits Weihnachten. Nein, sie werden ihnen bloss die Unkonventionalität beibringen. Das wohl wertvollste Geschenk, was sie für ihre Zukunft erhalten können.
Fasziniert von dem Netz aus Ideen, welches meine Gedanken gewoben haben, bezahle ich meinen Kaffee. Beim Verlassen des kleinen Ladens, schaue ich noch einmal über die Schulter zum Tisch mit den drei Personen. Zu den zwei Herren und der Frau, deren Enkel ich jetzt schon vor Augen habe. Eigentlich wollte ich ihr noch sagen, dass sie eine gute Mutter sei. Allerdings unterlasse ich es, denn womöglich sind all meine Gedanken doch nur ein Hirngespinst. Angetrieben von meinem Unterbewusstsein, welches seit dem Gedanken an Guetzli wohl aufgehört hat, richtig zu funktionieren.
Jäno, denke ich. Denn wenigstens weiss ich jetzt, was ich vor meiner Abreise auf jeden Fall noch einkaufen und als Proviant mitnehmen sollte.