„Rechts oder links?“, kichernd hüpft sie vor mir auf und ab. „Links“, sage ich, woraufhin sie triumphierend einen Stapel Papier hinter ihrem Rücken hervorzieht. „Da, für dich! Die habe ich extra aus meinem Zaubertiermalbuch ausgeschnitten. Papa hat mir geholfen.“ Sie wirft einen kurzen Blick über die Schulter zu ihrem Vater, dessen Grinsen kaum noch breiter werden kann, und wendet sich dann wieder mir zu. „Wow, das ist alles für mich?“ Sie nickt aufgeregt und ihre Augen strahlen mich an. „Oh, Dankeschön mein kleiner Schatz!“ Ich nehme sie in die Arme und gebe ihr einen Stups auf die knubbelige Nase. Sie quiekt ganz verzückt und scheint mehr als zufrieden mit ihrem Geschenk und meiner Reaktion.
Das ist Marie. Bald 7 Jahre alt und meine Cousine. Wenn sie nicht gerade malt, bastelt oder leise vor sich hin den Titelsong von Bibi & Tina singt, spielt sie am liebsten Zauberwald. Sie ist Naiara, eine Elfe mit – ganz wichtig – pinken Glitzerflügeln, und mich erklärt sie zu ihrem Einhorn Pegasus, das mit ihr Abenteuer erlebt. Manchmal komme ich mir wirklich vor wie ein Einhorn, so viel wie sie auf mir herumreitet.
Als Pegasus mal wieder eine der – laut Naiara viel zu häufig eingelegten – Verschnaufpausen beansprucht, wird es auf einmal ganz ruhig und ich merke, wie es in ihrem kleinen Kopf rattert. „Du, Lena?“, fragt sie in die Stille hinein. „Ja?“ Ihre großen Augen blicken erwartungsvoll zu mir hoch.
Was für eine tolle Frage, anders kann man es nicht sagen. Und es ist nicht das erste Mal, dass ich zunächst mal eine kleine Denkpause brauche, bevor ich ihr antworten kann. Ich mag diese Fragen. Sie führen mir gnadenlos vor Augen, wie eingeengt mein Blickwinkel doch ist. Dinge, die mir ganz normal vorkommen, findet Marie super spannend, möchte sie entdecken und nimmt nicht alles für gegeben. Mit „Das ist halt so“ gibt sie sich nicht zufrieden.
Marie scheint in ihrem Fragen ganz nach dem Motto der Sesamstraße zu handeln: „Wieso, weshalb, warum? Wer nicht fragt bleibt dumm!“. Sie denkt kritisch, möchte für alles eine Begründung, will verstehen, sucht den Sinn – auch beim Zimmeraufräumen, wie mir meine Tante erzählt. Sie hat keine Angst, jemandem auf die Füße oder in ein Fettnäpfchen zu treten, sondern fragt einfach geradeheraus.
Genau diese Unbefangenheit fehlt meinen Beobachtungen nach leider vielen. Die Stimme des Klein-Macher-Männchens hallt im Ohr: „Die anderen wissen das bestimmt schon. Und du solltest das eigentlich auch. Stell die Frage lieber nicht.“ Mit der Zeit verlernt man die Neugierde und damit auch das Fragen – und das ist so schade! Denn es könnte uns ungemein helfen, sich über das eigene Leben und die Welt klar zu werden. Denn das ist es, was uns weiterbringt und uns neue Denkanstöße schenkt. Das ganze einmal aus Kinderaugen betrachten und sich fragen: Was genau machen wir da? Wollen wir das überhaupt? Ergibt es Sinn, das zu tun? Wieso, weshalb, warum? Ja, vielleicht sollten wir alle wieder ein bisschen mehr Sesamstraße sein.
Geduldig wartet sie auf meine Antwort. „Sicher bin ich mir da auch nicht mein Schatz, aber so denke ich darüber. Ich glaube, böse ist, wenn du einem anderen Menschen absichtlich schadest, ihm weh tust, ihn verärgerst oder traurig machst. Hingegen gut ist, wenn du jemandem etwas Gutes tust oder ihm eine Freude bereitest. Vorhin zum Beispiel hast du mir eine große Freude gemacht.“ Sie lächelt.
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