Als ich Carmen das erste Mal vor ungefähr zwei Jahren sah, war ich schockiert und erschrak über die zierliche Gestalt ihres jungen Körpers. Auf mich wirkte sie wie eine Puppe aus Glas, die schon ein etwas härterer Schlag zerschmettert hätte: Ihre grossen, blauen Augen stachen aus ihrem schmalen Gesicht und die Kleidung, die sie trug, flatterte um ihren Körper. Es wirkte, als bestände sie nur noch aus Haut und Knochen. Heute kenne ich Carmen immer noch und sie ist gesund und lebensfroh – zum Glück! Der Weg, den sie gehen musste oder immer noch geht, ist lang und steil, doch das Ziel hat sie nie aus den Augen verloren.

Carmen und ich waren beide 15, als wir begannen, uns immer öfter zu sehen und langsam Freundinnen zu werden. In dieser Zeit habe ich erfahren, wie tapfer und mutig sie ist und wie sich immer wieder neuen Herausforderungen des Lebens stellt. Denn Carmen hatte etwas in sich, das ihr das Existieren auf unserem Planeten sehr schwer fallen liess: In ihrem Kopf hörte sie eine Stimme, die sie Ana nannte. Ana war bei jedem Gedanken, jedem Schritt und jeder Handlung dabei und beeinflusste Carmen bei allem, was sie tat. Bei Carmen war Anorexia Nervosa diagnostiziert worden. Die Krankheit begann mit einer kurzen Diät, ein kleiner Setzling im Kopf, der sich dann zu einer riesigen Schlingpflanze entwickelte und jeglichen Funken anderes Lebens zerdrückte. Bald war Carmen nur noch eine Hülle, in ihr herrschte schon lange Ana.
«Du bist nicht dünn genug!» «Leg den Apfel weg!» «Jogge nochmals eine Stunde!» Carmens Kopf war ausgefüllt mit Aussagen wie diesen und oft fragte sie mich, wohin man denn gehen sollte, wenn es die eigenen Gedanken sind, die einem das Leben zur Hölle machen. Manchmal beobachtete ich sie, wenn sie vor dem Spiegel stand, und ich sah, wie sie angewidert von sich selbst ihr Gesicht verzog oder in den bereits so dünnen Bauch kniff und beinahe zu weinen begann. Carmens Gewicht sank und mit ihm auch ihr Selbstbewusstsein und die Freude am Leben.
Im Sommer 2016 hatte ihr Körper einen solch kritischen Punkt erreicht, dass sie in die Klinik eingewiesen worden war. Doch noch immer ass sie nichts, stattdessen sprach sie davon, sich das Leben zu nehmen oder wie dick sie immer noch sei. Zwei Monate vergingen und Carmen war noch dünner als sie eingetreten war. Was folgte, war eine Magensonde und ein einwöchiger Aufenthalt im Spital. Wenn ich heute darüber nachdenke, dann war dies das Beste, was ihr jemals passieren konnte, denn nach diesem Ereignis war sie wie ausgewechselt: Sie wollte leben, reisen, unsere Erde geniessen und sie ass endlich wieder. Auch wenn sie nur ein halbes Croissant hinunterwürgte und dafür beinahe eine Stunde benötigte, war ich überglücklich und vor allem auch beeindruckt davon, wie sie das alles hinbekam. Natürlich gab es auch Phasen, in denen sie alles hinschmeissen wollte und nur noch weinte, weil sie zugenommen hatte, doch zum Glück überragten die positiven Gedanken. Sie kämpfte sich wieder hoch, liess Ana hinter sich zurück und wurde zu einer gesunden, selbstbewussten, jungen Frau.

Ich bewundere Carmen sehr, da ich viele Menschen kenne, die mit einer Essstörung zu kämpfen haben oder mit sich und ihrem Körper nicht zufrieden sind. Es ist sehr schwierig, aus einem solchen Teufelskreis herauszukommen und sich selbst zu akzeptieren oder gar zu mögen. Carmen war an einem Punkt in ihrem Leben, an dem sie medizinisch gesehen nicht mal hätte existieren können, und trotzdem war sie immer noch am Kämpfen. Beeindruckend ist auch die Art und Weise, wie sie heute über die Krankheit spricht: Sie besucht Schulen, klärt auf und will so dazu beisteuern, dass gewisse psychische Krankheiten in unserer Gesellschaft nicht mehr als Tabu-Thema angesehen werden.

Wenn ich Carmen heute anschaue, kann ich nicht anders als lächeln: Aus dem unsicheren Kind wurde eine selbstbewusste Frau, die alles daran setzt, ein Leben zu führen, das sie erfüllt. Von meiner Freundin habe ich viele wichtige Dinge gelernt, aber vor allem ein Satz, den sie immer wieder sagt, hat sich bei mir eingeprägt: «Selbstliebe ist nicht egoistisch, sie ist wichtig.»


Dieser Beitrag wurde im Rahmen des Best-Ofs 2018 noch einmal aufgeschaltet. Wir bedanken uns bei dir, liebe Rina, herzlich für deinen Einsatz bei Tize!

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