Vertrauen wir anders als Kinder? Besteht unser Glaube an die Welt, wenn wir ihre Gräueltaten noch nicht erblickt haben? Und wenn wir das Elend gesehen haben, haben wir dann keine andere Wahl, als verbittert und voller Kontrollzwang zu sein? Stimmt jeder am Ende seines langen Lebens Wladimir Iljitsch Lenin zu, der den Ausdruck „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ prägte?
Das Vertrauen in andere – und vielleicht auch in sich selbst – scheint mit den Lebensjahren zu schwinden. Ist es eine Gesetzmässigkeit des Vertrauens, dass es immer nur kleiner werden kann, oder gibt es Ereignisse, die es wachsen lassen können?
Die Ambivalenz des Vertrauens
Schon früh wird uns Vertrauen als eine wichtige Tugend gelehrt und Kinder scheinen auch gut darin zu sein, diese zu üben: In jungen Jahren vertrauen wir oftmals blind und ohne das Gegenüber zu kennen. Geschieht das, lernen wir, dass unser Handeln „vorschnell“ war und wir es „in Zukunft unterlassen“ sollen. Obwohl Kindern gelehrt wird, Vertrauen zu haben, zeigen viele Handlungen der Erwachsenen, dass Kontrolle doch besser ist (wenn es um die Gesundheit oder Sicherheit des Kindes geht, geht Vertrauen natürlich immer vor) – zum Beispiel bei den Hausaufgaben. Ich erinnere mich an das Beispiel meiner Kindheit: Obwohl ich bestätigt habe, dass meine Aufgaben erledigt sind, wurde meine Aussage von meinen Eltern überprüft – und ich bin mir sicher, dass ich nicht die Einzige war, deren Selbstverantwortung manchmal vielleicht doch nicht immer im Vordergrund stand. Es ist eine scheinbar belanglose Situation, doch erlebt man sie oft genug, kann es sein, dass man die Bedeutung von ehrlichem Verhalten hinterfragt. Kindern werden Ehrlichkeit und Vertrauen gepredigt, doch gleichzeitig wird ihnen gezeigt, dass diese Eigenschaften keine Bedeutung haben, indem ihre Wahrhaftigkeit oftmals überprüft wird. Das führt nicht nur dazu, dass Kinder gelehrte Werte missverstehen, sondern sich auch selbst hinterfragen.
Negative Erfahrungen führen zu kontrolliertem Verhalten
Nicht nur diese ambivalente Bedeutung des Vertrauens, sondern auch die Ausnutzung dessen ist oftmals für einen Vertrauensschwund verantwortlich. Auf schonungslose Weise erfahren wir meistens erstmals im Jugendalter, dass es nicht jeder gut mit uns meint. Mit jedem Vertrauensmissbrauch wird uns vor Augen geführt, dass Vertrauen am Ende bloss ausgenutzt wird. Wie der deutsche Dichter Christian Friedrich Hebbel sagte: „Wer damit anfängt, dass er allen traut, wird damit enden, dass er jeden für einen Schurken hält.“ Also beginnen wir damit, unser Vertrauen wegzuschliessen. Wir denken an die Worte, die wir in Kindesjahren hörten, die besagten, dass wir vorschnell vertrauten, und stimmen zu – ohne dass wir an all die Male denken, als unsere Gutgläubigkeit belohnt wurde.
Wir sind Erschaffer einer einfachen Illusion, wenn darin das Böse die Welt regiert: Sprechen wir der Welt alles Gute ab, tun wir das auch bei uns selbst. Erkennen wir überall nur Schlechtes, ist das eigene egoistische und kontrollsüchtige Verhalten leicht zu rechtfertigen.
Die Früchte des Vertrauens
Doch es ist auch möglich, ein positiveres Weltbild zu wahren. Wir können die Vertrauensmissbräuche sogar dazu nutzen, das eigene Vertrauen zu stärken. Ist nicht eben der, der nicht mehr vertraut, derjenige, der einst vertraut hat? Die Gutgläubigkeit anderer auszunutzen ist etwas, das wir im Verlaufe unseres Lebens erlernt haben, darum ist es auch möglich, diese Verhaltensmuster wieder zu durchbrechen. Sehen wir vertrauenswürdige Menschen, fällt es uns selbst leichter, vertrauenswürdig zu sein und zu vertrauen. Das Gute ist keine Antwort auf das Böse, sondern das Echo seiner selbst. Wie der US-amerikanische Schriftsteller Henry David Thoreau sagte: „Nichts Grösseres kann ein Mensch schenken als sein Vertrauen. Keine Gabe erhöht so sehr den Geber und den Empfänger.“ Es ist bewiesen, dass wir Vertrauen müssen, um zufrieden zu sein. Nur wenn wir an unsere Mitmenschen und unsere Zukunft glauben, ermöglicht es uns ein erfülltes Leben zu führen.
In einer Zeit, in der gegenseitiges Vertrauen Mangelware scheint, ist es wichtig, dass wir damit nicht sparsam umgehen, denn nur so kann sich das Gut verbreiten. Natürlich sollten wir unser Geld nicht dem nächstbesten Fremden leihen und immer jedem vertrauen (etwas gesunder Menschenverstand ist immer angebracht), stattdessen sollten wir nach der Gabe des Vertrauens Ausschau halten und versuchen sie selbst anzuwenden. Hören wir auf, das Kind zu tadeln, das vorschnell vertraut, und beginnen wir damit, von ihm zu lernen: Wie sonst wollen wir das Gute bewahren?
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