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Als ich auf dem Weg nach Hause im Zug war, sass eine Mutter neben mir und schrie ihr verunsichertes, ängstliches Kind an. Die Menschen im Abteil warfen ihr und dem Kind kritische Blicke zu – die Situation war allen unangenehm. Gedanken wie «Sie muss ihre Wut unter Kontrolle bekommen», «das arme Kind» oder «kann dieses Geschrei endlich aufhören» schwirrten ganz automatisch in meinem und den Köpfen der Mitreisenden herum. Doch obwohl Wut oft sehr negativ behaftet ist, muss sie nicht immer nur destruktiv sein.

Wut, als menschliche Emotion, wird in der Gesellschaft als etwas Schlechtes, Unangemessenes und Schwaches angesehen – dies manchmal auch zu Recht. Denn die Wut kann durchaus zu impulsiven, unkontrollierten Handlungen und Verhaltensweisen führen, die für das Umfeld oder einen selbst schnell zum Verhängnis werden können.

Man vergisst jedoch oft, dass uns ein konstruktiver Umgang mit Wut, sei es auf individueller oder gesellschaftlicher Ebene, im Verlaufe der menschlichen Geschichte gelegentlich grosse Schritte weitergebracht hat.

Prävention eines Vulkanausbruchs

Für uns Menschen ist es wichtig, manchmal sogar nötig, seiner Wut freien Lauf zu lassen und auch mal lauter zu werden, denn Emotionen – egal ob von der Gesellschaft als positiv oder negativ abgestempelt – müssen gefühlt und verarbeitet werden. Werden sie dies nicht, so fressen sich Menschen die Emotionen in das Innere hinein und lassen diese im Kern des Gemüts blubbern. Über eine längere Zeitspanne kann sich die Emotion der Wut als Beispiel zu Frust umwandeln, welche das Gemüt wie eine dreckige, klebrige Magmaschicht umhüllt, bis sie zu Lava wird. Zu einem bestimmten Trigger-Zeitpunkt kann dieses Lava dann eruptionsartig herausströmen, im schlimmsten Fall sogar in der Präsenz von Menschen, die mit dem eigentlichen Entstehen der anfänglichen Magmaschicht gar nichts zu tun hatten und demnach zu Unrecht mit der Situation konfrontiert werden. 

Besonders in Sozialisationsinstanzen kann dies zu grossen Problemen führen. Wenn eine Lehrperson, zum Beispiel, im privaten Leben von ihrem Partner verlassen wurde und die daraus entstehende Wut nicht verarbeitet hat, kann die Lehrperson im Berufsleben möglicherweise durch einen kleineren Zwischenfall getriggert werden. Wenn sie dann einer Schülerin oder einem Schüler ungerechtfertigterweise mit Wut begegnet, kann sich dies nicht nur auf die zwischenmenschliche Beziehung negativ auswirken. Es kann vor allem auch das Selbstvertrauen des Kindes schwächen, weil es das Gefühl hat, einen grösseren Fehler gemacht zu haben. Wäre die Lehrperson konstruktiver mit der Situation umgegangen, hätte sich die Wut nicht in ihr aufgestaut.

Indem, dass man also manchmal einen, im Vergleich gesehenen, kleineren Wutausbruch hat, können grössere Vulkanausbrüche der Wut im falschen Umfeld verhindert werden.

Wut als Katalysator

Die Lehrperson könnte allerdings ihre im privaten Umfeld entstandene Wut als Katalysator für Selbstentwicklung und -erfüllung verwenden. Die durch Wut entspringende, meist negative, emotionale Energie kann nämlich in positive Energie umgewandelt werden. Diese kann genutzt werden, um an sich selbst zu arbeiten und eine bessere Version von sich selbst zu werden. Wut bedeutet nämlich, dass einem etwas an anderen Menschen, einer Situation oder an einem selbst nicht passt. Durch das Bewusstwerden seiner Wut und dem, was die Wut ausgelöst hat, kann man, wenn man dies auch möchte, etwas aus den vergangenen Konfrontationen mit Wut lernen und etwas an sich, seinem Verhalten oder seiner Reaktion auf eine wutauslösende Situation ändern.

Dieser Effekt der Wut kann besonders gut bei der Verbesserung der physischen und psychischen Gesundheit eines Menschen genutzt werden. Als Beispiel, wenn ein Mensch von seinem Partner verlassen wird und nach der Trennung wütend auf den Partner und/oder auf sich selbst ist, kann er seine Wut dafür nutzen, um zu analysieren, wie es zu dieser Situation gekommen ist und was in einer nächsten Beziehung zu optimieren wäre. Somit kann ein positives Ergebnis durch Reflexion und Veränderungswunsch das Resultat der Emotion Wut sein.

Streiterei als Verhandlungsmöglichkeit in Beziehungen

Diese Möglichkeit ergibt sich jedoch auch schon vor einer Trennung, in Beispiel eines Paares. In Beziehungen, egal in welcher Form, muss nämlich auch ab und an mal gestritten werden. Wer nicht streitet, baut mit der Zeit einen Groll gegen seinen Partner auf und dies führt, fast unvermeidlich, zu einem viel grösseren Konflikt, als dass es hätte sein müssen. Keine Beziehung ist perfekt und alle haben mal etwas, das sie stört. Das Wichtige ist, dass man dies frühzeitig kommuniziert und dafür muss man seine Gefühle auch mal laut werden lassen. Durch Streitereien kann nämlich Raum für Diskussionen und Verhandlungen geschaffen werden, welche zu einer gemeinsamen Lösung führen können. Kommt es jedoch zu keiner gemeinsamen Diskussion, sondern nur zu einem Schreikampf, wurde die Wut nicht konstruktiv als Katalysator genutzt.

Es kann das Gleiche passieren, wie bei unzähligen Paaren, die sich nie oder selten gestritten haben und leise alle ihre Beschwerden in sich hineingefressen haben. Bis zu dem Punkt, als einem der beiden der Kragen geplatzt ist und es zur Trennung, wenn nicht sogar zur Scheidung, kommt. Im Nachhinein bereuen Paare ihre Handlungen und reflektieren, dass vielleicht alles nicht so geendet hätte, wie es ist, wenn man seine negativen Emotionen, darunter Wut, kommuniziert hätte.

Wut als Weg zur politischen Veränderung

Nicht nur auf privater Ebene kann Wut konstruktiv als Raum für Diskussion und Verhandlung genutzt werden, sondern auch auf einer höheren Ebene, der Gesellschaftlichen. Politisch motivierte Proteste und Demonstrationen sind nämlich ebenfalls eine positive Weise der Wutauslebung. Sie sind das Resultat der jahrelangen Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Unterdrückung, was die Betroffenen wütend macht. Die Probleme werden so lange ignoriert, bis sie durch die Auslebung der Wut ihre Wichtigkeit erhalten. Jahrelanger Frust aufgrund von Benachteiligung und Ignoranz der Wichtigkeit der verschiedensten Themen wie die Diskriminierung von POC, Queer People oder Diskriminierung aufgrund von finanziellen Unterschieden. Die sind der Leitfaden unserer progressiven Politik.

Die Wut wird in Aktion umgewandelt, man geht auf die Strassen, um gehört zu werden, um eine Veränderung zu machen. Politiker und Aktivisten halten Reden, welche der Öffentlichkeit die Probleme erklären, in der Hoffnung, dass diese ihre Aufmerksamkeit wecken. Je lauter, desto besser, je mehr Menschen präsent sind, desto einschlagskräftiger. Eigentlich sind alle sozialpolitischen Fortschritte durch Aufstand hervorgerufen worden. Sei es durch Proteste oder politische Reden. Es passiert (fast) keine Veränderung ohne das Ausleben von Wut und Empörung – zumindest in der Politik nicht.

Das Frauenstimmrecht ist ein gutes Beispiel für Wutauslebung und ihre positiven Folgen in der Politik. Die Frauen gingen auf die Strassen und protestierten für ihre Rechte. Eine Wut hat sie dazu gebracht, eine Wut auf die Ungleichheit unter den Geschlechtern. Frauen haben das physikalische Energiegesetz genutzt und die Wut in Veränderung umgewandelt. Die vorher genannten Themen sind alle Bewegungen, welche in den letzten Jahren massiv an Medienpräsenz gewonnen haben. Als Fallbeispiel die «Ehe für Alle» Bewegung. Queere Menschen werden seit Jahren unterdrückt und in der Gesellschaft nicht gleichbehandelt wie Cis Menschen. Durch Proteste und das Heben der Stimmen wurde in der Schweiz vor zwei Jahren die Ehe für alle angenommen und ist somit ein weiteres Beispiel für den positiven Einfluss von korrekt-ausgelebter Wut. Wäre die Wut nicht so verwendet worden, wären wir wahrscheinlich gar nicht weitergekommen. Die Wut ist die treibende Kraft in sozialpolitischen Progressen.

In der Geschichte gibt es weitere zahlreiche Beispiele für Vorschritte in unserer Gesellschaft, welche durch Wut ins Rollen gebracht wurden. Ein Beispiel dafür ist der Sturm auf die Bastille, welcher die Französische Revolution ausgelöst hat. Eine Revolution kommt zustande, wenn in einer Gesellschaft sehr viel Unzufriedenheit herrscht und keine Verbesserung des Lebensstandards in Sicht ist. Die Arbeitenden und dem Adel unterworfene Menschen in Frankreich beherbergten genau diese Gefühle zur Zeit vor der Revolution. Sie mussten nämlich jahrelang alle ihre Einnahmen als Steuern dem König abgeben. Die Situation verschärfte sich zunehmend, als die Bewohner von Frankreich am verhungern waren, währenddessen der König den Bau seines eigenen Palastes von Versailles mit ihren Steuereinzahlungen finanzierte. Die jahrelang aufgestaute Wut gegen den Adel resultierte im Sturm auf die Bastille. Die Ausbeutung des gewöhnlichen Menschen vom Adel und Klerus kam mit dem Sturm auf die Bastille und der darauffolgenden Revolution endlich zu einer Veränderung.

Es ist aber auch möglich, Wut in einer friedlichen Weise auszudrücken. Laute Proteste gibt es zu Häufen, doch sie sind nicht die einzigen Proteste, die nennenswert sind. Ihr stilleres Gegenstück, die stillen Proteste, wie Gandhi sie initiiert hat, werden oft überschaut. Doch in ihrer Wirkung sind sie mindestens genauso effektiv. Die Wut Gandhis und seiner Anhänger, ausgelöst durch das britische Regime, brachten sie auf friedliche Weise zum Ausdruck. Durch gezielte stille Proteste verschafften sie sich die Aufmerksamkeit vieler und durch ihre passive Vorgehensweise gewannen sie ihren Respekt. 

An diesem und den anderen aufgeführten Beispielen, ist deutlich zu sehen, dass es durchaus möglich ist, ohne Gewalt und ohne Vulkanausbruch seine Wut seinem Partner, seinem Umfeld oder sogar der Welt zu zeigen. Dadurch kann man sowohl auf das Individuum als auch auf eine Gesellschaft bezogene, lebenswichtige Veränderungen ermöglichen.

Dieses Essay wurde in Zusammenarbeit mit Anju Beerli, Jasmin Imfeld und Sona Garg geschrieben.