Till, 16 Jahre alt, Schüler: Erstmal Instagram checken, nächster Song auf Spotify wählen, überlegen was ich heute auf Netflix schaue, zack Zalandobestellung rausgeschickt. Hmm, Was wollte ich schon wieder machen? Ach ja, die Schularbeit. Oh, kurz noch eine Nachricht an Anne: «Hey, Anne. Heute noch Lust zum Joggen?». Du kennst diesen oder einen ähnlichen Ablauf ziemlich sicher auch.


Ein Beitrag von Gastautor Stephan Wüest


Aktuell beschäftige ich mich oft mit Fragen zum Thema Digitalisierung und deren Auswirkungen auf das „Miteinander“ in einer Gesellschaft. Dabei fällt mir auf, dass Achtsamkeit, Empathie und Ruhe immer weniger Raum erhalten – vor allem wegen der omnipräsenten Berieselung mit Informationen durch Smartphones etc. Das Gehirn ist konstant damit beschäftigt, unterschiedliche Informationen zu verarbeiten und hat deshalb immer weniger Kapazitäten sich auf nur Etwas zu fokussieren. Wahrscheinlich hast du bereits zwei Push- Benachrichtigungen erhalten, seit du diesen Text liest.

Statistiken belegen, dass weltweit Depressionen, Angstgefühle, Unzufriedenheit und soziale Isolation insbesondere bei Jugendlichen zunehmen. Die Ursachen dafür liegen in einem Leben, welches zunehmend online, anstatt offline stattfindet und somit weniger zwischenmenschlichen Austausch erfordert. Hunderte Kurznachrichten am Tag vermitteln das Gefühl einer realen Konversation. Doch dies ist ein Trugschluss – man nimmt z.B. weder die Mimik, Gestik, den Geruch, die Tonhöhe, Sprechgeschwindigkeit noch die Umwelt seines Gegenübers wahr. Es braucht diesen «realen» Austausch, um den Umgang mit anderen Menschen zu lernen. Sich zu lieben, zu streiten, zu vertragen, miteinander zu sprechen, Freundschaften zu schliessen, aktiv zuhören, auf andere und sich selber Acht nehmen, Empathie und Toleranz – Das sind alles menschliche Eigenschaften, die auf Kosten der Bildschirmzeit dahinschwinden. Die Generation Z wächst als allererste Generation in einer praktisch vollständig digital vernetzten Online-Welt auf. Deshalb ist sie besonders mit der Gefahr konfrontiert, diese menschlichen Eigenschaften, welche für das Zusammenleben enorm wichtig sind, nicht mehr zu beherrschen bzw. zu kennen. Aus diesem Grund müssen «die Älteren» eine Vorbildfunktion einnehmen. Sich offen lieben, streiten, vertragen, miteinander sprechen, sich aktiv zuhören, Haltung bewahren, mit einer eigenen reflektierten Meinung auftreten und so den Folgegenerationen vorleben, wie wichtig diese Fähigkeiten sind. Schliesslich lernen Kinder von ihren Vorbildern, besonders von den Eltern.

Ohne darüber zu werten, respektive eine Generation für irgendetwas zu beschuldigen, ist der Begriff Generation Schneeflocke, stv. für Generation Z, nicht von weit hergeholt.

Stephan Wüest

Tiefe Widerstandsfähigkeit in Krisen, hohe emotionale Verletzlichkeit und psychische Instabilität in der Generation Z definieren den Begriff Generation Schneeflocke. Haltung, Mut, Widerstandsfähigkeit und Durchhaltewille lernt man im Umgang mit anderen Menschen und den daraus resultierenden Reibpunkten. Ja, im realen Leben erfordert der Umgang mit Menschen einigen Mut. Dennoch bleiben wir trotz digitaler Vernetzung Menschen und brauchen somit diese Fähigkeiten für eine funktionierende Gesellschaft. Wie werden die Kinder der Generation Z einmal aufwachsen? Was geschieht, wenn Menschen grundlegende soziale Fähigkeiten verlernen? Wird der Mensch zunehmend den Draht zu anderen Menschen und zu sich selbst verlieren?

Kommunikation ging noch nie so einfach und schnell wie heute. Eine Nachricht in einem Gruppenchat mit 150 Mitgliedern zu posten erfordert weitaus weniger Mut und Energie, als auf einer Bühne vor 150 Leuten zu stehen. Massenweise vergiftete Hasskommentare beleuchten die Kehrseite von Social Media. Wer würde offline schon den Mut aufbringen vor Tausenden Leuten eine Einzelperson blosszustellen? Beiträge die Gier, Wut und Neid auslösen, erzeugen Aufmerksamkeit und Social Media funktionieren dank Aufmerksamkeit – dank deiner Aufmerksamkeit. Dazu später mehr.

Tunnelblick – An einem Bahnhof sind die meisten Menschen mit Kopfhörern in den Ohren in ihre Bildschirme vertieft. Die Wahrnehmung liegt auf dem Bildschirm, nicht auf dem einen umschliessenden Geschehen. Kein nach oben schauen, hören und innehalten. Hinter dem Starren auf den Bildschirm, dem sichtbaren Tunnelblick, verbirgt sich auch ein unsichtbarer Tunnelblick – Der Tunnelblick, der im Kopf abläuft. Angenommen einer der wartenden Menschen am Bahnhof ist der anfänglich erwähnte Till. Till verbringt täglich rund zwei Stunden an seinem Smartphone (Statistiken belegen, dass diese Werte häuft stark nach oben ausschlagen). In den 10 Minuten bis der Zug einfährt, konsumiert er, wie über 1 Milliarde andere, nutzungsbasierte Inhalte auf Instagram, Spotify, Snapchat und vielleicht noch Newsportalen. Social Media Apps sind leicht bedienbar, schnell zugänglich und bieten grosses Suchtpotenzial. Tills Medienkonsum füttert die Algorithmen mit seinen Nutzungsdaten. Dabei lernt das Programm, welche Inhalte Till mag und zeigt ihm noch mehr und noch spezifischere Inhalte an, die seine Interessen widerspiegeln. Till interessiert sich für Fussball, deutsche Sportwagen, Rapmusik und der Politik seiner Lieblingspartei. Damit gehört er zu einer Gruppe mit ähnlichen Interessen. Diese Gruppen konsumieren logischerweise ähnliche Inhalte wie Till. Besonders Inhalte die Wut, Gier oder Angst auslösen, erzeugen am meisten Aufmerksamkeit auf Social Media Plattformen. Die grosse Aufmerksamkeit, die diese Inhalte erhalten, erwecken das Bedürfnis, mehr dieser Inhalte zu konsumieren und folglich mehr Zeit auf Social Media Plattformen zu verbringen. Hast du schon einmal deinen Instagramfeed genauer betrachtet? Es ist kein Zufall, dass die App die geposteten Beiträge nicht mehr chronolgisch, sondern eben nutzungsbasiert anzeigt. Je intensiver Till die App nutzt, umso eintöniger werden die Inhalte, die er konsumiert – Fussball, deutsche Sportwagen, englische Rapmusik und die Politik seiner Lieblingspartei. Grösserer Freiraum für Kreativität, kritisches Denken, Meinungsverschiedenheiten und Horizonterweiterungen sind Botschaften, mit denen die Social Media Unternehmen ihre Dienste legitimieren. Jedoch ist das Gegenteil Realität – Einfältigkeit, ein Tunnelblick und im Extremfall ein lähmender Zustand, ausgelöst durch eine Reizüberflutung der chaotischen Eindrücke und Bilder, die Till daran hindern aktiv am Leben teilzunehmen. Eine Stunde kopflos auf Social-Media Feeds zu stöbern geht rasend schnell vorbei.

«Hey Till, Joggen um 18.00 Uhr geht klar.»

Ich finde, dass man technologischen Fortschritt nicht verteufeln sollte, obwohl er zahlreiche negative Folgen und Nebeneffekte mit sich bringt. Denn ich bin davon überzeugt, dass er das Leben in vielen Bereichen sinnvoll und nachhaltig erleichtert. Aber bestimmt soll man den Technologischen Fortschritt nicht widerstandslos und unreflektiert als gegeben und nicht beeinflussbar annehmen. Hier kommen die Achtsamkeit und Aufmerksamkeit ins Spiel. Wenn die eigene Aufmerksamkeit durchgehend überall ausser im Moment ist, tanzt man auf vielen Parties gleichzeitig, nur nicht auf der eigenen. Till fühlt sich machtlos und ist frustriert, weil er seinen Zielen nicht näherkommt oder weil die Gedanken so vernebelt sind, dass er seine Ziele und sich selbst gar nicht mehr bewusst wahrnimmt. Er ist nicht machtlos, er muss sich nur hinsetzen, denken und aktiv werden.

Bewusste Offline-Phasen mit zwischenmenschlichen Interaktionen ermöglichen emotionale Verbundenheit mit seiner Umwelt und seinen Freunden, Freiraum für Kreativität und Erfahrungen, eine differenzierte Meinungsbildung, kurzum Horizonterweiterungen und geben somit, das Rüstzeug für ein selbstbestimmtes Leben.

«Hey Anne, ich freue mich aufs Joggen. Bis nachher!»

Von Stephan Wüest

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