Fragen wir ein Kleinkind, ob es in irgendeinem Fall entschuldbar ist, jemanden zu töten, wird sein Nein in den meisten Fällen äusserst bestimmt ausfallen. Fragen wir hingegen einen Erwachsenen, wird er sich nach den Umständen erkunden, versuchen die Motive des Täters zu ergründen und in manchen Fällen sogar nicken und sagen: «Ja, in diesem Fall ist es entschuldbar.»
Das wirft die Frage auf, weshalb sich unsere Moralvorstellungen so drastisch voneinander unterscheiden und im Laufe unseres Lebens verändern. Werden wir rücksichtsloser mit dem Alter? Oder vermitteln wir Kindern eine unrealistische Weltvorstellung?
Um diese Fragen zu klären, müssen wir also zuerst wissen, wann und wie wir unserer Moral formen, und was diesen Prozess beeinflusst.
Denn schliesslich sind es diese Werte, auf denen wir unser ganzes Rechtssystem aufbauen.
Wann formen sich Moralvorstellungen?
Zu dieser Frage gibt es mehr als nur eine Theorie. Die einen sagen, die grösste Veränderung geschehe in der frühen Jugend, andere sind sich sicher, dass sie ein ganzes Leben lang dauert.
Trotz Differenzen sind sich die meisten Lehren in einem einig. Die Moral verändert sich Schritt- oder Stufenweise. Die zunehmende Fähigkeit, Dinge aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, spielt dabei eine grosse Rolle.
In den ersten Lebensjahren, der frühen Entwicklung, basiert die Moralvorstellung der Kinder in den meisten Fällen auf ihren eigenen Bedürfnissen und den Werten, die ihre Eltern ihnen übermittelt haben. Für sie gibt es nur falsch und richtig, das sie anhand der Folge einer Aktion erkennen. Wird sie belohnt, war sie richtig, bei Bestrafung gilt sie als falsch. Ihre Vorstellungen hängen also stark von der Autorität, meist Eltern oder Lehrern, ab.
In einem zweiten Schritt, ab ungefähr 8 Jahren (wobei dies bloss Durchschnittswerte sind), realisieren die Kinder, dass Regeln veränderbar sind. Sie verstehen, dass eine Handlung moralisch gut ist, wenn am Ende beide Seiten zufrieden sind oder wenn Gerechtigkeit eintritt.
Die letzte Stufe beginnt meist noch vor der Pubertät. Sie beinhaltet die Realisation, dass Moral nicht von Autoritäten abhängt. Viel wichtiger als die Kategorisierung einer Tat als gut oder böse ist die Absicht des Handelnden.
Diese Erkenntnis ist auch der Grund, weshalb Mord im Affekt weniger hart bestraft wird als eine geplante Tat.
Über die Dauer dieses Prozesses zerfliesst die klare Linie von gut und böse, wie wir uns als Kind vorstellen. Viel eher wird sie zu einem Bereich, einer Grauzone. Wie die Handlungen darin beurteilt werden, hängt stark von jedem Einzelnen ab.
Weshalb unterscheidet sich die Moral von Mensch zu Mensch?
Die oben genannten Schritte gehören selbstverständlich nur zu einem Modell. Wie ein Wetterbericht, der zwar oft zutrifft, doch lange nicht alle Eventualitäten vorhersagen kann.
Wäre es für alle Menschen gleich, bräuchten wir schliesslich keine Gesetzbücher und kein Gericht.
Die Entwicklung der Moral variiert von Person zu Person und hängt von mehreren Faktoren ab. Dazu gehört Genetik, genauso wie epigenetische Faktoren, wie beispielsweise die Erziehung.
Biologische Einflüsse
Wie bei allem haben auch bei der Ethik und Moral die Gene ihre Finger im Spiel; Wenn auch eher indirekt. Gene sind die Basis für die Produktion von Hormonen, welche wiederum unsere Gefühle und damit auch unsere Moralvorstellungen und Handlungen beeinflussen.
Oxytocin beispielsweise fördert Empathie und Vertrauen, was schliesslich zu prosozialeren Verhaltensweisen führt. Aber auch Serotonin «verhilft» uns zu einer besseren Moral. Es bringt uns dazu schlechtes Verhalten gegenüber Mitmenschen abzulehnen, wie in einer Cambridge Studie herausgefunden wurde.
Testosteron hingegen wird oftmals mit verstärktem Temperament und Durchsetzungsvermögen in Verbindung gebracht. Dies führt zu einer Moral, die eher auf das Resultat einer Handlung abzielt, und weniger auf die Handlung selbst.
Der genetische Einfluss im Allgemeinen erhöht sich mit zunehmendem Alter. Besonders in jungen Jahren kann die Genexpression also durch Einflüsse der Umwelt unterdrückt oder verstärkt werden. Deshalb ist es auch so wichtig, was man Kindern beibringt und vermittelt. Haben sie erst einmal etwas verinnerlicht, wird es um einiges schwieriger, diesen Glauben, diese Vorstellung, zu verändern.
Umfeld
Der Einfluss der Umwelt auf unsere Moral hängt zum einen mit der Lerntheorie zusammen. Dieser zufolge basiert der Grossteil unseres Wesen darauf, was wir wie gelernt haben. Dabei dienen zum Beispiel Schuld und Scham als «Mittel der Bestrafung» in Folge einer «schlechten» Handlung. Diese unangenehmen Gefühle wollen vermieden werden und so werden wir zu einem gewissen Verhalten konditioniert.
Genauso kann die Erziehung natürlich auch positive Einflüsse haben. Der moralische Kompass wird beispielsweise dadurch gerichtet, schon früh Gelegenheiten zu prosozialem Verhalten geschaffen werden.
Auch hier können wir an die Lerntheorie anschliessen. Bei «moralisch gutem» Verhalten, sollen die Kinder gelobt werden, denn Lob führt zu Stolz; Ein äusserst erstrebenswertes Gefühl, das man gerne wiedererlangt.
Weiter dient ebenfalls die allgemeine Vorbildfunktion kleinen Kindern als Anhaltspunkt. Die Kinder ahmen nach, was sie sehen, auch wenn sie gut und schlecht noch nicht selbst auseinanderhalten können. Diese Unterscheidung folgt schliesslich erst nach dem dritten Lebensjahr. Wann genau ist schwer zu sagen, da Studien oft zu recht unterschiedlichen Resultaten gekommen sind.
Umso wichtiger ist es demnach, besonders bei Kleinkindern, ein gutes Vorbild zu sein.
Morality is only moral when it is voluntary.
Lincoln Steffens (1866-1936)
Die Moral durch die Zeit
Besonders interessant finde ich persönlich, wie sehr sich die Moral abhängig des Zeitalters oder der jeweiligen Kultur unterscheidet.
So war die Todesstrafe ¨über lange Zeit etwas vollkommen Normales (ist es schliesslich selbst heute noch in vielen Ländern), während dies für uns in der Schweiz heutzutage kaum vorstellbar ist.
Auch das Duell oder das Lesen von göttlichen Zeichen als Entscheidung über Leben und Tod erscheinen uns gegenwärtig beinahe morbide, wohingegen diese Dinge im alten Griechenland gang und gäbe waren.
Andersherum funktioniert das natürlich ebenfalls. Diskutierten die Menschen noch vor wenigen Jahrzehnten über die Ethik der Pille, steht sie bei uns heute an der Tagesordnung.
Und besonders die Toleranz gegenüber gleichgeschlechtlichen Paaren hat in den letzten Jahrzehnten rapide zugenommen. Dass der Ehe zwischen Partnern desselben Geschlechts in der Schweiz erst im letzten Herbst zugestimmt wurde, erschien vielen bereits längst überfällig.
Dem Wahlrecht für Frauen wurde in der Schweiz ebenfalls erst vor fünfzig Jahren zugestimmt, eine weitere Grundlage, die uns jetzt vollkommen normal erscheint.
Moralvorstellungen ändern sich nicht nur im Laufe eines einzelnen Lebens, sondern auch über die Jahrhunderte. Was heute als selbstverständlich gilt, kann in ein paar Jahren längst veraltet sein, und was uns aktuell unvorstellbar erscheint, bereits zur morgigen Realität gehören.
Die Moral eines Menschen hat also keine Grenzen, bloss Einschränkungen, die immer wieder neu überdacht, ausgedehnt und überschritten werden. Wir können gespannt sein, was die Zukunft für uns bereithält.