Darf ich vorstellen? Das Jahr:

1. Januar. Einen Tag zuvor hatte China der Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Entdeckung einer neuartigen Lungenerkrankung gemeldet. Doch die weltweite Öffentlichkeit nimmt die ersten Medienberichte kaum ernst, stattdessen sieht man überall Memes. Die Zurschaustellung des Egoismus der Menschen läuft auf Hochtouren. Noch scheint alles gut zu sein. Im Januar breitet sich die Krankheit von der Stadt Wuhan ausgehend in ganz China aus und schreckt nicht vor Ländergrenzen zurück. Am 11. März schließlich wird das Infektionsgeschehen als „pandemisch“ charakterisiert. Der Grundstein für das „Wort des Jahres“ ist hiermit gelegt: Corona-Pandemie. Städte mit leergefegten Straßen, Gesichter, die von Masken verdeckt werden und Desinfektionsmittelflaschen an jedem Eingang gehören zum Alltag. „Wir müssen noch Toilettenpapier kaufen“, lautet die Parole in vielen Haushalten, doch schnell! Sonst ist schon alles weggehamstert. Und dann die ersten Bilder aus Italien, auf denen Leichen in Lkws abtransportiert werden. Es wird Belastbarkeit, Ausdauer und viel Lungenvolumen zum Ausatmen gebraucht, jetzt ist Improvisationstalent gefragt. Eltern im Homeoffice, Hin- und Herrennen zwischen Küche, Kindern, Konferenz. Und noch einen Laptop kaufen, weil nun jedes Kind im Homeschooling auf einen eigenen angewiesen ist. Und das Restaurant geht pleite, was nur mit den Angestellten machen? Kein Geld mehr, keine Aussicht. Und eine „ernste Zeit“ folgt der nächsten. Der Staat weiß sich zunächst auch nicht zu helfen, und schon gar nicht den kleinen Betrieben. Ungerechtigkeit zur Folge. Und dann werden die Grenzen geschlossen, keine Hochzeit des Bruders in Italien, kein Wiedersehen mit der Mutter. Die einzige Hoffnung: der Impfstoff.

Zudem wütet seit nun mehr als neun Monaten ein großes Feuer in Australien. Bis zum Januar 2020 sind 15,9 Mio. Hektar Busch verbrannt. Das ist etwa vier Mal die Fläche der Schweiz.

25. Mai. 8 Minuten und 46 Sekunden kämpft George Floyd um sein Leben. „I can´t breath“ sagt er immer wieder, doch der US-Polizist Derek Chauvin drückt sein Knie weiter auf seinen Hals, bis er das Bewusstsein verliert. Gemeinsam mit drei seiner Kollegen ist er von einem Mitarbeiter in dessen Laden gerufen worden. Der Mann sagt aus, Floyd habe Zigaretten mit einem falschen 20 Dollar Schein gekauft, woraufhin die Polizisten ihn in Minneapolis verhafteten. 17 Minuten nachdem das erste Polizeiauto angekommen ist, war George Floyd tot. Eine weltweite Protestbewegung startet. Unter dem Namen „Black Lifes Matter“ setzten sie sich gegen rassistische Diskriminierung durch Polizeigewalt und für eine Reform der Selbigen ein. „I can´t breath“ schreien die Protestierenden auf prall gefüllten Straßen überall auf der Welt. Die Bewegung führte zu einer unglaublichen Solidaritätsbekundung, Rassismus als ein in der Struktur der Gesellschaft verankertes Problem gewann enorm an Aufmerksamkeit, man sprach darüber. Bin ich rassistisch? Woran merke ich das? Was kann ich tun?  Fragen, mit denen sich dieses Jahr sehr intensiv beschäftigt wurde. In Bücher, Podcasts, Zeitungen; sie waren Thema von Videos auf YouTube, Dokumentationsreihen auf Netflix, Posts auf Instagram.

4. August. In Beirut explodieren in Folge von einem durch Schweißarbeiten entfachten Feuer 2750 Tonnen Ammoniumnitrat. Dabei werden mindestens 190 Menschen getötet und mehr als 6500 verletzt. Weite Teile der Stadt werden von der Katastrophe verwüstet zurückgelassen, Aussichtslosigkeit prägt die Gesichter der betroffenen Menschen.

9.August. Wahlen in Belarus. Die Massendemonstrationen in Belarus im Sommer 2020 sind die größten seit Ausrufung der Republik Belarus im Jahr 1991. Lang, Kräfte zehrend und große Verluste hinnehmend protestierten die Menschen gegen die Politik und Präsidentschaft von Aljaksandr Lukaschenka, der das Land seit nun 26 Jahren diktatorisch regiert. Um die Wahl für sich zu entscheiden, schreckt er nicht vor der Anordnung von massiver Polizeigewalt gegen die Protestanten, Festnahmen von politischen Gegnern und Folterungen in den Gefängnisanstalten zurück. Lukaschenka schafft es, an der Macht zu bleiben, doch die Wahlen werden international aufgrund der massiven Wahlmanipulation weitgehend als Scheinwahlen gesehen.

9. September. Ein Brand zerstört das Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Halbinsel Lesbos. Die Hoffnung auf Erlösung, auf eine Änderung der Flüchtlingspolitik der EU hat es zum Brennen gebracht. Seit Jahren schon ist das Lager komplett überfüllt; wo eigentlich 3000 Menschen Platz hätten, lebten 13000 unter unmenschlichsten Bedingungen. 12000 von ihnen werden durch das Feuer obdachlos, darunter 4000 Kinder. Sie verbringen die folgenden Nächte auf der Straße, ohne ausreichend Wasser und Essen, hoffnungslos und verzweifelt. Als Proteste gegen diese Zustände aufkommen, möchte die griechische Regierung diese klein halten und setzt sogar Tränengas ein. Was nun, Europa?

3. November. Präsidentschaftswahl in den USA. Eine Woche lang haften die Augen der Welt auf den roten und blauen Balken, die die Stimmen für Joe Biden und Donald Trump anzeigen. Das lange Bangen hat aufgrund der großen Beteiligung per Briefwahl erst am 7. November ein Ende, als die US-Medien auf vorliegender Datenbasis Biden zum Sieger der Wahl erklären. „Nicht spalten, sondern einen“, ruft er in seiner Siegesrede zu einem neuen Miteinander auf. Seine künftige Vizepräsidentin Kamala Harris, die als___ ein Vorbild für Menschen auf der ganzen Welt ist, versichert „der Weg wird kein leichter sein“, aber Amerika sei bereit „und Joe und ich sind es auch“. Die erste Hürde zeichnet sich sogleich ab, denn der noch amtierende Präsident Trump erkennt das Wahlergebnis nicht an und verkündet, rechtliche Schritte einzuleiten. Seine Klagen werden weitgehend abgewiesen und schließlich muss er mit drei Wochen Verzögerung doch den Präsidentschaftsübergang einleiten.

24. Dezember. Weihnachten. In weiten Teilen Europas wird ein erneuter Lockdown mit sehr strengen Maßnahmen angekündigt. Für viele heißt das dieses Jahr Festtage im kleinen Kreis, ohne die lang nicht gesehenen Verwandten aus dem Ausland, ohne Weihnachtsmärkte, ohne abendliche Restaurantbesuche. Trotz all dem wird die gemeinsame Zeit sehr genossen.

Wie wollen wir all diese Erfahrungen und Ereignisse in Erinnerung behalten? Um diese Frage zu beantworten, möchte diese Reihe Klarheit in der Gedankenbibliothek schaffen und beschäftigt sich mit folgenden Themenbereichen:

  1. Erinnern
  2. Gedächtnis
  3. 2020 Rückblick
  4. Nachträgliche Manipulation
  5. Vergessen

2020. Anders. Neu. Fern ab von allem Gewohnten. Es hat uns gezeigt, wie nicht selbstverständlich das Selbstverständliche ist. Die kleinen Momente im Leben wertschätzen. Im Moment leben, nicht im Gestern, nicht im Morgen, sondern genau jetzt, das hat es uns gelehrt. Wie viel Zusammenhalt und Mitgefühl unter den Menschen bewegen kann, wie sehr die gemeinsame Hürde sie zusammengeschweißt hat, alle saßen sie im selben Boot. Während der ersten Welle war alles neu und überfordernd. Das Haus verlassen, durch den Wald joggen, ein Lächeln geschenkt bekommen. Das hat den Tag besser gemacht. Gleichwohl wurde aber auch der Egoismus der Menschen selten so stark deutlich wie beim Thema Rücksichtnahme auf Mitmenschen, beim Hände Desinfizieren, beim Maske Tragen. Auch machte sich allmählich eine Missgunst in der Gesellschaft breit, Hand in Hand mit Misstrauen. Sobald doch ein Geburtstag gefeiert wurde, schlugen die Alarmglocken laut und eine Stimme hallte im Ohr „das darf man doch nicht, oder?“. Was bei diesem schnellen Urteilen leider oft vergessen wurde, sind die Umstände, in denen sich das Gegenüber befand.

20 aus 2020

Für den Rückblick habe ich viele Freunde gefragt, was diese 2020-Erfahrung mit ihnen gemacht hat. Hier meine Favoriten.

  1. Wo zum Teufel hab ich schon wieder diese blöde Maske hin?
  2. Couch
  3. Das “r” in “corona” steht für „ruiniert“, aber keine Ahnung was der Rest soll.
  4. Alle waren nur am Kondome, Wein und Toilettenpapier Kaufen. Ich freue mich schon auf den Baby Boom.
  5. Corona! Wer glaubt noch an die Pandemie.
  6. Up, down, up, down.
  7. Unsicherheit
  8. Ein großer Schritt zur Selbstfindung
  9. Komisches Gefühl, wenn Großansammlungen im Fernsehen gezeigt wurden.
  10. Das wahrscheinlich langweiligste Jahr meines Lebens.
  11. Nach einem halben Jahr Arbeiten in der Praxis habe ich zum ersten Mal den Mund meines Chefs gesehen.
  12. Chaos pur
  13. Lesen, allein Sport machen, im Internet verkommen, essen. Meine Tätigkeiten 2020.
  14. Quality Time mit meiner Familie.
  15. Anders
  16. Zuerst ist uns das Dach über dem Kopf zusammengefallen, aber dann ging´s.
  17. Toilettenpapier-TikToks
  18. Den Satz „Die Zeiten sind ernst“ kann man nicht mehr ernst nehmen.
  19. Es wurde mir einiges klar.
  20. Shit but I kinda liked it

2020 – das Jahr, in dem ich zu meiner Großmutter wurde

Ein Jahr, das für mich auf der Turbulenz-Skala die bisher höchste Zahl erreicht hat. Heute vor einem Jahr habe ich mit meiner Familie in Mexiko auf den Tischen getanzt, Piñatas wurden von kleinen Kinderhänden zerschlagen, bis die Süßigkeiten purzelten und wir drehten mit dem Koffer in der Hand Runden um den Block, was uns viele Reisen bescheren sollte. Fast. Für mich gab es eine Reise, eine etwas verfrühte, aber im Gegensatz zu manch anderen habe ich in diesem Jahr noch einmal ein Flugzeug von Innen bewundern dürfen. Drei Monate früher als geplant musste ich leider mein Auslandsjahr beenden und in die Schweiz fliegen. Dort erwartete mich ein neues Land, neue Leute, eine neue Sprache, ein neues Zuhause, denn meine Familie war im Winter, während ich in Mexiko war, umgezogen, womit die Schweiz für uns alle Neuland war – wortwörtlich. Als sie mich am Flughafen abholten, flossen uns die Tränen in die Masken und die in Handschuhen steckenden Hände suchten nach Taschentüchern – ein für die Lena aus 2019 sehr komisches Bild.

Doch wenn mich dieses Jahr eines gelehrt hat, dann Gelassenheit. Die Dinge so zu nehmen, wie sie kommen, denn Planen konnte man dieses Jahr vergessen. Mein mexikanischer Gastvater sagte immer: „Herr, gib mir Kraft um die Dinge zu ändern, die ich zu ändern vermag, Geduld um die Dinge zu akzeptieren, die ich nicht zu ändern vermag und Weisheit um das eine vom anderen zu unterscheiden.“

Manchmal entdecke ich an mir Anwandlungen, die jener meiner Oma gleichen. Ich höre mich Sätze sagen wie „wie schön die Kinder spielen“, „weißt du noch damals vor Corona“, „mir tut der Rücken weh“, „beeindruckend, wie schnell die Zeit vergeht.“ Mit meinem Sessel bin ich zufrieden, einem guten Buch, Mittagsschlaf.

Zeit, das für mich wichtigste Wort in diesem Jahr. Denn nicht nur hat mir die Situation Zeit mit meiner Familie geschenkt, Zeit zum Lesen und Schreiben, sondern auch Zeit zum Atmen. Mir ist, als hätte ich die ganze Zeit die Luft angehalten, mehr und mehr gewollt als ich überhaupt verarbeiten konnte und nun wurden die Maschinen einmal stillgelegt. Kein Rädchen hat mehr gedreht, eine lange Pause, die ich mit Nachdenken gefüllt habe. Nachdenken über die schleichende Vereinfachung der Digitalisierung und somit Daten-Hamstern durch beispielsweise das kontaktlose Zahlen, welches während der Pandemie als glänzende Lösung präsentiert wurde. Nachdenken über die nun beinahe schon verkeilte Schere, die sich zwischen arm und reich schwerlich noch weiter öffnen kann; über die freiberuflichen SchauspielerInnen an Theatern, die keine Arbeit haben und aber auch kein Arbeitslosengeld erhalten können, da sie zuvor nicht fest angestellt waren; über die vielen RestaurantbesitzerInnen, die ihre Lokale schließen mussten und schlaflose Nächte grübelnd über ihre MitarbeiterInnen verbracht haben; über die als „Corona-Helden“ gefeierten und täglich um 17.00 beklatschten KrankenpflegerInnen, die beim Thema Einkommen dennoch abgehängt werden. Nachdenken über die vielen Menschen die allein, einsam sind. Nachdenken darüber, wie gut es uns geht und wie sehr es unsere Pflicht ist, genau das wertzuschätzen und nach Gerechtigkeit strebend zu handeln.

Meine 13-jährige Schwester hat einmal gesagt „Lena, du bist aus einer anderen Generation“ und dieses Jahr muss ich ihr in manchen Aspekten Recht geben. Denn ja, zumindest beim Thema TikTok fühle ich mich wie meine Großmutter.

Was für ein Jahr! Aber nun: Hoch die Gläser auf das neue Jahr 2021!

Geschrieben von:

ich bin für ein Faber-frohes Leben

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