Warten. Tippen. Einatmen. Einsteigen. Dann losfahren. Der Blick schweift nach draussen. Wolken hängen träge in den zartbraunen Baumwipfeln, lassen das fröhliche Zwitschern der Amseln dumpf erklingen. Verträumt ziehe ich ein Buch aus meinem Rucksack und öffne es an der aktuellen Stelle. Meine Augen lassen sich von Wort zu Wort leiten. Es ist Englisch, ich mag die Sprache aber ich verstehe nichts, klappe das Buch und stopfe es zurück in den Ranzen.

Ausatmen.

Ich ziehe mein Smartphone aus der Tasche und scrolle durch den gestrigen Abend meiner Freunde. Offiziell hab ich über dreihundert. Laut diversen Statistiken sind knapp ein Drittel davon aktiv. Kommt drauf an, was ich hochlade. Der Rest ist rein platonisch, fürs Image, schliesslich macht man das so heute. Aber Freunde sind wir schon. Wie heisst der da nochmals mit Nachname? Ich schalte das Internet aus.

Einatmen.

Ich wechsle auf den Zug, einige Stationen später erblicke ich vor mir den Existenzgrund zahlreicher menschlicher Seelen. Schlängelnd durch Stangen voll mit Kleider und Kleidchen und kunterbunter Unterwäsche, greife ich wahllos nach schwarzen Jeans. Meine sind letztens gerissen. Es ist halb elf und das Umziehen geht schnell. Abstreifen, anziehen. Der Reissverschluss klemmt oder vielleicht liegts am grossen Bauch. Am Ende landen zwei Jeans und ein Pulli auf der Verkaufstheke. Die Dame lächelt. Ich auch. Dann stecke ich die Kreditkarte in das graue Kästchen und bekämpfe dabei den sauren Gedanken an das Geld, dass soeben mit langen Flügeln davonflog. Doch ich winke, immer noch zaghaft lächelnd und verlasse den Saftladen, der mich doch nur abziehen will.

Ausatmen.

Dann steige ich in den nächsten Bus und lasse mich auf den erstbesten Sitz fallen. Ist hier noch frei? Gedankenverloren nicke ich und blicke in das Gesicht einer midfünzfiger Dame. Sie war einkaufen, jetzt entwirrt sie ihre Kopfhörer und wippt im Takt mit dem Finger. Ich wende mich ab. Meine Gedanken schwirren. Ich hab doch auch Kopfhörer dabei. Was sie wohl hört. Dann denke ich an mein Buch, das ich nicht versteh. Und den Reissverschluss, der nicht zuging und der nun samt Hose trotzdem in meinem Rucksack steckte. Dann an das zuckrige Frühstück heut Morgen und die fehlende Motivation, das Fahrrad zu nehmen. Und an meine Freunde, die gestern ihren fünfundvierzigsten Sonnenuntergang in Folge beobachteten. Ich denke an morgen, an das nächste Jahr. An alle Jahre, die schon waren. Entschuldigung, es ist nur ein murmeln, dann presse ich mich an der Dame vorbei und steige aus.

Einatmen.

Die frühherbstliche Luft ist kühl. Die Bäume verlieren nach und nach ihre Haarpracht und einige Rosen in den schicken Vorgärten bäumen sich ein letztes Mal in ihrer blutroten Pracht auf. Aber die Blätter lösen sich bereits. Entfernt ein Donnerbrummeln. Ich laufe los, drehe alsbald den Schlüssel zur Wohnung. Die Musik läuft, der Herd ist aus. Einmal eingeschalten, breitet sich bald daraufhin ein angenehmer Kaffeeduft aus. Ich trinke ihn schwarz. Es fühlt sich gut an.

Ausatmen.

Ich streife meine Hosen ab, hüpfe in das neue Paar, ziehe den Bauch ein und reisse den Verschluss nach oben. Passt. Ich kombiniere und versuche dabei westliches Glück im Spiegel zu erkennen. Made in Thailand, lese ich dann. Na toll, aber niemand wird es merken.

Es ist Mittag und Freitag und ich atme ein.

Dann fängt es an zu regnen.

Geschrieben von:

auf der Suche nach etwas Inspiration

1 Comment

  1. Bernd Jacobs Reply

    Das schwarze Fleisch, zahngerädert
    im Hafen der Augenweide,
    ist und bleibt begrünt.
    Hauptsache: Melancholie
    stirbt an einer Überdosis
    Zeit.
    Den traurigen Engeln
    wird das Gefieder gefegt.
    Sie lernen lachen.

    (Nach einem Häusergraffito in Rostock, 1995)

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