Das liebe Internet mit seinen Vor- und Nachteilen. Ein zu großer Schwall an Informationen, ein Überfluss, in dem wir ertrunken sind. Wir sehnen uns nach dem Offline-Modus, lieben Ferien auf dem Land, einmal raus zu kommen. Doch, was tun mit der Zukunft?

Damals

1989. Es ist schon fast um zwölf. Schon mehrmals sind ihr die Augenlider zugefallen, aber jedes Mal musste sie sie wieder nach oben reissen. Die Stimmen waren einfach zu laut, nichts mit Einschlafmusik. Aber eigentlich wollte sie auch gar nicht schlafen, sondern lieber das Ende des verbalen Schlagabtauschs mitbekommen, der gerade zwischen ihren WG-Mitbewohnern abgeliefert wurde. Philosophiestudenten. Das kann noch dauern, dachte sie, aber eigentlich könne sie mit ihrem Germanistikstudium ganz leise sein.

Lars war dafür, er sagte es schaffe unendliche Möglichkeiten der Bildung, es sei so, als habe man immer und überall Zugriff auf alle Bibliotheken dieser Welt. Man könne das Internet als Chance für mehr Gerechtigkeit auf dieser Welt nutzen und Menschen liessen sich unabhängig von der kilometerweiten Entfernung auf wenige Centimeter zusammenbringen. Jan sagte, genau das sei doch das Problem, die Unendlichkeit. Die Menschen wüssten ja gar nicht, was das Ganze für Gefahren mit sich bringen werde, ganz zu schweigen von dem was darauffolgen würde. Soll das Internet für alle frei zuganglich werden?

Heute

30 Jahre später ist sie Deutschlehrerin an einem Gymnasium und ich ihre Schülerin. In einer Pause erzählt sie mir von den schier unendlichen Debatten, Diskussionen über Diskussionen, die sie während ihrer Studienzeit darüber geführt hatte. Es war jene Zeit gewesen, in der das Internet eine Sensation war, etwas kaum Vorstellbares, Wunderbares, Beängstigendes. Nach und nach wurden an Universitäten Internetanschlüsse in Betrieb genommen, Euphorie. Diese Euphorie ist mittlerweile verflogen und das frei zugängliche Internet ist Alltag geworden, nicht mehr wegzudenken.

Sie war damals klar gegen das Internet für alle und für immer und für überall gewesen. Sie hatte die Art der Anwendung damals gemocht, für Recherche, auch zur Kommunikation von internationalen Organisationen war das Internet hilfreich gewesen, doch für Zuhause? Nein, das hatte sie nicht gewollt. Schon damals hatten sie, sie alle, Studenten, Professoren, Wirtschaftsweise etc., Bedenken, waren sich unsicher, sahen große Gefahren, die sie damals – und sie glaubt auch heute – noch gar nicht zu erfassen vermochten. Und doch habe die Neugier gesiegt, denn alles, was technisch möglich sei, werde einmal umgesetzt. Mit politischen Maßnahmen könne man die Umsetzung allenfalls verzögern, aber nicht aufhalten.

Doch das Internet hat sich durchgesetzt, wie es zu erwarten war. Es etablierten sich soziale Plattformen, Medien wie Instagram und Facebook gewannen an Bedeutung und stellten so immer mehr eine Gefahr für die Gesellschaft dar. Gerade ihr als Deutschlehrerin falle die mangelnde Konzentrationsfähigkeit auf, beziehungsweise das mangelnde Interesse an allem was nicht alle Sinnesorgane komplett überfordere.

Die langweilige Realität

Bücher zum Beispiel. Ein Buch gibt den Menschen heutzutage zu wenig, es ist schließlich nur ein Stück Papier mit seltsam verteilter schwarzer Farbe darauf. Es spielt keinen 8D-Sound ab, zeigt keine Animationsfilme, bei denen der Schwerpunkt der Information schon von vornherein gesetzt ist. Es geht nicht rasend schnell, führt in keinen Wahn. Langweilig. Das Buch zeigt keine vorgekaute Version der Fantasie eines anderen, sondern verlangt, dass man seine eigene Vorstellungskraft einsetzt – Überforderung pur. Es wird eine detaillose „Welt“ präsentiert, in der alles perfekt zu sein scheint. Keine Makel mehr. Alles idealisiert, perfektioniert, gephotoshopt. Wie langweilig ist doch dagegen die Realität.

Letztens war ich im Supermarkt einkaufen, erzähle ich ihr. Fast wäre ich über einen Kinderwagen gefallen, der mitten im Gang stand. Der Kopf des kleinen Mädchens war bei Weitem kleiner als der Bildschirm, an den er förmlich gedrückt wurde. Ich glaube, mir ist der Mund offen gestanden, denn die Mutter hat mich böse beäugt. In ihren kleinen Pupillen spiegelten sich die eklig perfekten Farben des Flachbildschirms; die verblödende Musik vernebelte ihren Verstand, kein Entkommen.

Bye, Chancengleichheit, tschau Bildung, meinen wir. Diese Beobachtung als Beispiel für den aktuellen Zustand sei doch das Gegenteil von dem, was man mit dem ursprünglichen Vorhaben erreichen wollte, bemerkt sie. Der freie Zugriff auf immense Datenmengen sollte allen den Zugang zu Wissen ermöglichen, ihnen die Chance geben sich zu bilden, sollte ein Mittel gegen die Ungerechtigkeit sein.

Das Internet, der freie Wissenszugang gibt dem Individuum selbst die Verantwortung für seine eigene Bildung, für sich selbst zurück. Doch wie gut das klappte, könne man ja daran erkennen, dass die Kinder eine Buche nicht von einer Kastanie zu unterscheiden vermögen und sich fragen, warum Blumen nicht einheitlich rosa gefärbt sind, wie im Fernsehen, sagt sie.

Meinungs- und Optimierungswahnsinn

Mit Sorge betrachten wir den heiteren Strom der rosa TikTok-Fische, die ihren Kopf im rechten Winkel über ihre kleinen Möglichkeiten bietenden schwarzen Rechtecke halten. In dem Strom wurden Werte von unbeständigen Meinungen abgelöst. Wie Fähnchen, kleine unscheinbare Fähnchen, flattern die Meinungswellen im Wind, halten keinem Sturm stand und werden nur dann gehisst, wenn ihnen keine Gefahr auf einen Zusammenstoß droht. Sofort werden sie schwarz, lila oder regenbogenfarben angemalt, wenn der Wind aus einer anderen Richtung bläst, aber die Farbe blättert schnell wieder ab. Natürlich ist es schwierig in einem solchen Strom die Himmelsrichtungen zu erkennen, um sich einzunorden. Wir sehen den Wald vor lauter Meinungen nicht mehr.

Allerdings ist zweifelhaft, ob dabei das ständige Vergleichen und nicht-vor-der-eigenen-Haustür-Gekehre hilft. Was soll das, fragen wir uns. Besser sein, anders sein, schlechter sein. Aufmerksamkeit.

Was ist normal? Gar nichts mehr. Es fühlt sich nichts mehr normal an, immer so, als würden wir mit der Akklimatisierung eine neue Normalität hinter dem Rest der Welt zurückhängen. Ein schreckliches Gefühl. Aber eigentlich wollen wir doch diesen Optimierungswahnsinn gar nicht, keine Lust auf perfekt ausgerechnete Nahrungsmittelportionen, bei denen die enthaltenen Vitamine nicht an einer Hand abgezählt werden können; keine Lust auf Muskeltrainingsoptimierung, Schlafoptimierung, Mindoptimierung – nein, man kann nicht mehr Geist, Gehirn oder Einstellung sagen, wo sind wir denn hier bitte, doch nicht im Anglizismen-freien Raum – Selbstoptimierung. Selbstoptimierung? Perfektion. Und dann?

Überfordert sind doch alle. Wir sind überfordert; wissen nicht mehr wie denken, was denken, ob denken. Überfordert mit der Welt. Wie herrlich das einfache Leben, Ferien auf dem Bauernhof, back to the basics.

Im Überfluss ertrunken

Wir sind im Überfluss ertrunken; wir sehnen uns nach Wüste, Wald, Wiese. Wir wollen raus hier, haben keinen Bock auf den ganzen Mist. Herrlich sind die Funklöcher, einfach mal weg. Doch statt auf unser Herz zu hören, folgen wir dem Geschrei des Kopfes „Mehr, Neues, Schneller!“; schalten alles andere auf Göschenen-Airolo, lassen es auf kürzestem Weg durch die dunklen Schädeltunnel jagen, dass sie ja nicht die Abzweigung Richtung Gehirn nehmen. Es zieht.

Immer mehr. Für diesen ungestillten Hunger, die Junkie-hafte Begierde an Neuem, Größerem, Schnellerem, dafür ist das Internet perfekt. Es ist schlicht und einfach zu viel. Das reizt, oder?

Doch langsam, aber sicher werden wir alle zu Maskottchen unserer eigenen Dummheit. Wir gaukeln uns vor, wir seien groß und wichtig; unser Tweet könne etwas bewirken (und das Schlimmste ist, er tut es vielleicht sogar, wenn wir ihr nur anti-genug, extrem-genug gestalten). Wir taumeln einfach so vor uns hin und „haben von nichts eine Ahnung doch zu allem eine Meinung“, wie es Marc-Uwe Kling einmal so treffend formulierte.

Letztendlich denke ich, sind wir alle überfordert mit unserer Zeit. Die Werte, nach denen wir erzogen wurden, auf die wir unsere Weltvorstellung aufgebaut haben, die uns Grund zum Träumen gaben, werden nach und nach dank der Digitalisierung komplett umgeschichtet. Die Parole „Wissen ist Macht“ gilt immer weniger, viel mehr heisst es „Zu wissen wie ist Macht“. Es sind ganz andere Fragen, mit denen sich unsere Generation beschäftigen muss. Wir, die wir den Luxus-Blick auf die Welt haben dürfen. Die gute Schere wird uns immer begleiten, soziale Gerechtigkeit, der Klimawandel – all diese Themen werden auch bei uns grossgeschrieben sein.

Endlich alle YouTuber!

Jedoch gibt es eine neue Frage. Was fangen wir mit uns an, wenn wir nicht mehr gebraucht werden?

Die Autorin Sibylle Berg hat dazu einen Entwickler für Künstliche Intelligenz gefragt, was denn dann die ganzen Menschen machen würden – beispielsweise die verschwindenden KassiererInnen, die es nicht mehr brauche, denn wir checkten uns alle selbst ein. Er antwortete darauf, das sei großartig, die Menschen hätten dann alle endlich Zeit ihrer Kreativität nachzugehen, sie würden alle YouTuber werden. Sie meinte nur, das sei exakt da, wo sie die KassiererInnen alle sehe.

Vielleicht ist es für den Anfang ganz gut, ein paar Tage offline zu gehen und bei sich anzukommen, vielleicht sich den Film „100 Dinge“ anzusehen – ausnahmsweise auf DVD.

Nach dem Gespräch mit meiner Deutschlehrerin bin ich übrigens zu spät in die nächste Stunde gekommen. Sie sagte mir allerdings, ich dürfe dem nächsten Lehrer sagen, es sei ihre Schuld gewesen, denn wir mussten ein paar wichtige Dinge besprechen.

Geschrieben von:

ich bin für ein Faber-frohes Leben

Was ist deine Meinung? Schreib einen Kommentar!