Wie sieht die Zukunft der Ukraine aus? Radomyr Mokryk beantwortet dies und sagt, wie die Verhältnisse zwischen China, Russland, der Schweiz und Europa mit der Ukraine aussehen und was wahrscheinlich passieren wird, wenn die Ukraine den Krieg gewinnt oder ihn verliert.

Der dritte Teil der Ukraine-Konflikt-Reihe handelt über das Jetzt und die Zukunft. Im ersten Teil erfährst du mehr über die ukrainische Kultur und im zweiten Teil über die Geschichte der Ukraine und über die Entstehung des aktuellen Krieges.

Was denken Sie über die Haltung der Schweiz zum Krieg?

Radomyr Mokryk: «Die Schweiz hat sich immer an die Neutralität gehalten und so wird man von der Schweiz nichts anderes erwarten. Historisch gesehen steht die Schweiz immer abseits. Wenn ich mich nicht irre, gab es Situationen, in denen die Schweiz die Weitergabe ihrer Waffen, die schon in den anderen Ländern waren, blockiert hat. Aber in der Ukraine gab es deswegen keine aufgewühlten Reaktionen, weil man weiss, dass die Schweiz neutral ist. Deswegen ist jedes Signal, wie beispielweise Sanktionen oder die Blockierung der finanziellen Bankkonten (was bedeutet, dass die Schweiz sich überhaupt in die Koalition der Sanktionen verbunden hat) für die Ukraine sehr wichtig. Hier gibt es keine Erwartung, dass die Schweiz gross mit einer militärischen Hilfe kommen oder jemanden hierhin schicken wird. Aus historischer Sicht wird mit so etwas nicht gerechnet.»

Was denken Sie über die Haltung von Europa?

Radomyr Mokryk: «Ich denke im Allgemeinen, dass die Reaktionen der westlichen Länder sehr aufmunternd sind. Ich kann mich sehr gut auf den ersten Tag des Kriegs erinnern, wo es eine grosse Unsicherheit gab. Heute sagt man, dass die Hilfe des Westens sofort gekommen ist, aber leider war dies nicht der Fall. Es dauerte einen kurzen Moment, etwa zwei Tage, wo man nicht mehr wusste, wie es weitergeht. Es gab einen grossen Druck. Die Russen eroberten schnell. Sie kamen in den Bezirk von Kiew rein. Es gab überhaupt keine Sicherheit, ob sich die Ukraine halten kann und ob Kiew nicht fallen könnte.

Die Reaktion des Westens kam zu einem Zeitpunkt, wo es klar war, dass die Ukrainer um jeden Preis kämpfen werden. Damals wurde dem Westen klar, dass Ukraine nicht aufgeben wird. Wenn Europa nicht geholfen hätte, wäre es nicht nur eine Schande, sondern eine Tragödie für ganz Europa, denn hier ist eine Nation, die kämpfen und sich bewähren will. Das heisst nur zu zuschauen wäre nicht möglich.

Kinderspielplatz nach dem Einschlag einer russischen Rakete im Zentrum von Kiew

Deutschland hat lange überlegt, ob es den Ukrainern Waffen geben wird oder nicht. Es gab tragikomische Versuche des französischem Präsidenten Emmanuel Macron, sich mit Putin zu arrangieren. Er hat ihn die ganze Zeit angerufen. Das führte zu nichts. Dann ist er nach China gefahren und stellte sich dort bloss. Die allgemeine Tendenz ist aber eine grosse militärische und finanzielle Unterstützung. Auf den Punkt gebracht: Ohne die Unterstützung des Westens würde die Ukraine fallen und das ist eine Tatsache. Die Soldaten an der Front sagen, wenn die westliche Unterstützung aufhört, wird Russland die Ukraine überrollen.

Eine zweite Sache ist die finanzielle Unterstützung. Die ukrainische Ökonomie liegt in Trümmern. Keine Ökonomie kann eine so starke Aggression überleben. Im Weiteren wichtig ist auch die Unterstützung der Flüchtlinge in Europa und in Amerika sowie in Kanada. Wir können feststellen, dass die Welt sich mit der Ukraine verbunden hat. Wir bekommen eine massive Unterstützung, die für uns wichtig ist. Aber es ist auch eine Geschichte der Solidarität, die für Europa wichtig ist. Denn man fühlt, dass es eine Gesellschaft von gleichgesinnten Menschen ist. Dass es nicht ein Bluff ist, wo es nur um ökonomische Zusammenarbeit geht. Es gibt hier wirklich Werte, welche die Menschen in Europa verbindet und welche sie bereit sind zu schützen. Ich denke, es ist eine Prüfung, aber Europa schafft es. Auf meiner ukrainischen Seite spreche ich einen riesengrossen Dank denen aus, die helfen und Geld spenden. Denn wir brauchen es wirklich dringend. Wir verstehen, dass wir es ohne die Solidarität von Europa nicht geschafft hätten.»

Wie steht es um China und Russland?

Radomyr Mokryk: «Das ist schwer zu sagen, denn China spielt sein eigenes Spiel. Eigentlich unterstützt es Russland, aber nicht offiziell. Ich denke, dieser Krieg spielt China in die Karten, denn dieser Krieg schwächt alle geopolitischen Spieler. Es schwächt Russland und auch Europa, denn viele Ressourcen gehen in die Ukraine usw. Für China ist dies eine gute Situation, denn es profitiert von diesen Entwicklungen. Ich bin aber gespannt, wie es diese Situation ausnutzten wird. In der Ukraine kursieren Hoffnungen, dass China Sibirien besetzt und die Russen somit ganz andere Probleme als die Ukraine haben. Das sind jedoch nur Spekulationen. China hält sich in einer komischen Neutralität, aber es ist klar, dass es auf der Seite der Russen ist.»

Und China und die Ukraine?

Radomyr Mokryk: «Die Beziehung zwischen China und der Ukraine und die diplomatische Ebene zwischen den Ländern funktioniert nicht so gut. Es gab Bemühungen vom Präsidenten Zelensky, mit Xi Jinping zu sprechen. Aber dieses Gespräch hat nie stattgefunden. China ist eher abwartend. Es wartet, bis es klar wird, wer auf der stärkeren und wer auf der schwächeren Seite sein wird. Das heisst es gibt keine Zusammenarbeit zwischen den Ländern.»

Infobox:
Das Gespräch mit Xi Jinping: Am 26.04. 2023 fand ein Telefongespräch zwischen Zelensky und Jinping statt, in welchem Jinping sagte, dass er einen Sondergesandten in die Ukraine schicken will.
Quelle: https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/ukraine-krieg-xi-spricht-erstmals-seit-kriegsbeginn-mit-selenski/29116632.html

Haben Sie eine Ahnung, wie lange der Krieg noch dauern wird?

Radomyr Mokryk: «Ehrlich gesagt denke ich, dass er leider noch lange dauern wird. Sagen wir es so: Die Situation kann sich morgen ändern, wenn es im Kreml zu einem Putsch kommt. Im weiteren wissen wir nicht, was im Moskau los ist. Es wird gesagt, dass Putin in keiner guten Kondition ist und dass er das Vertrauen der anderen verliert. Wenn in Russland die Lage stabil bleibt, dann wird der Krieg in fünf Jahren enden. Damit meine ich, dass es im Kreml keine Streitigkeiten geben wird und dass es keinen Aufstand in der russischen Gesellschaft geben wird. Das letztere ist sehr unwahrscheinlich, denn wenn sie einen Aufstand hätten machen wollen, dann hätte er schon längstens stattgefunden. Ich glaube nicht an eine Revolution in Russland. Wenn die Situation so stabil bleibt, dann sehe ich leider keinen Grund, warum der Krieg früher enden sollte. Russland kann den militärischen Druck auf die Ukraine für Jahre aufrechterhalten. Russland ist mit allen möglichen Sanktionen belegt, aber leider hält sich ihre Ökonomie. Prognosen, die vorhergesagt haben, dass die russische Wirtschaft fällt, sind nicht in Erfüllung gegangen. Die Sanktionen hatten nicht die Folgen für die russische Wirtschaft, die man erwartet hatte.»

Welche Rolle wird Ukraine nach dem Krieg haben?

Radomyr Mokryk: «Ich bin sicher, dass die Ukraine einen Platz in der Nato verdient. Ein Argument dafür ist, dass die Urkaine nach einem Sieg die erfahrenste Armee haben wird, die nicht nur auf den Trainingsplätzen funktioniert hat, sondern auch eine grosse Erfahrung im Feld hat. Weiter sollte die Ukraine Mitglied der EU werden. Aber es ist wichtig, dass die Ukrainer die Mitgliedschaft nicht als einen Preis des Sieges über Russland ansehen, sondern als eine reale Möglichkeit das Land zu modernisieren, denn in der Ukraine gibt es andere Probleme, wie zum Beispiel die Korruption. Aber mit einer Mitgliedschaft in der EU würde sich eine Tür für die Ukraine öffnen.

Hotel “Ukrajina” im Zentrum der Regionalhauptstadt Tschernihiw im Norden der Ukraine. Das Hotel wurde von einer russischen Rakete getroffen.

Die Ukraine hat gezeigt, dass die europäischen Werte, also Freiheit und Demokratie, für ihre Einwohner wichtig sind. Dort leben Menschen, die bereit sind für diese Werte zu kämpfen und zu sterben. Es wird ein moralischer Anspruch in Bezug auf die Ukraine entstehen. Dieses Ethos wird nicht das Ethos des Kampfes oder das der Menschen, die für die Freiheit gekämpft haben sein, sondern das der Verantwortung. Wenn du ein Ukrainer bist, der im Ausland lebt, sollte dir bewusstwerden, dass du einen Staat repräsentierst, der in einem Krieg ist und um die Freiheit kämpft. Wir müssen uns bewusstwerden, dass das, was wir jetzt haben, einen hohen Preis hat: Jeden Tag sterben Menschen an der Front. Das solltest du schätzen.»

Was passiert, wenn die Ukraine verlieren sollte?

Radomyr Mokryk: «Das ist leicht zu sagen, die Ukraine wird es nicht mehr geben. Deshalb rede ich nicht darüber. Russland ist gekommen, um die Ukraine, also die Kultur und die Nation zu zerstören. Das heisst, wenn die Ukraine verliert, dann wird die Ukraine nicht mehr existieren.»

Haben Sie eine Situation erlebt, die Ihnen im Gedächtnis geblieben ist?

Radomyr Mokryk: «Ich werde keine konkreten Situationen nennen. Ich habe die ganze Ukraine bereist. Ich war in Städten, wo ich noch nie gewesen bin. Die Ukraine ist gross und manchmal sind es hunderte von Kilometern, um von einer Stadt zur anderen Stadt zu kommen. Ich war überrascht von der Einheit der Ukrainer. Denn manche pro-russischen Politiker haben das Argument gebracht, dass die Ukraine ein künstlicher Staat und verrissen sei, dass in diesem Staat Menschen leben, die verschiedene Religionen oder Sprachen haben. Dann antworte ich immer, welcher Staat ist nicht künstlich? Keiner. Im Laufe des letzten Jahres habe ich immer wieder die gleiche Meinung der Menschen gehört. Niemand will die Russen hier haben und wir werden deswegen kämpfen.

Die Solidarität der Menschen war überwältigend. Als ich in Odessa gewesen bin, traf ich dort einen Mann, der einen Autosalon gehabt hat und ihn in ein Zentrum für Flüchtlinge umgewandelt hat. Die Bemühung, sich gegenseitig zu helfen und die Selbstaufopferung ist gross in beispielweise Charkow. Wenn man es sieht, dann glaubt man wieder an die Menschheit. Man sieht, wie Menschen etwas von ihrer Substanz den anderen geben und sich für den Nächsten aufopfern. Es geht um die Heldenhaftigkeit des Kampfes aber auch die Menschlichkeit, die ich in meinem Heimatland gefunden habe.»

Vielen Dank für das Gespräch!

Die Ukraine-Konflikt-Reihe ist jetzt abgeschlossen und das war der letzte Teil des Interviews. Herr Mokryk hat mir und vielleicht euch viele Einblicke in den Ukraine-Konflikt gezeigt, die man wenig oder gar nicht in den schweizerischen oder westlichen Medien liest.

Stimmt ihr mit Radomyr Mokryk ein? Schreibt eure Gedanken und Meinungen in den Kommentaren.

Die Bilder sind von Radomyr Mokryk.

Geschrieben von:

Svět je malý a o náhody tu není nouze.

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