Oft sitzt er einfach nur da und lauscht. Den Menschen um ihn herum, die unaufhörlich vor sich hin quasseln, dem Wind, der durch den Raum pfeift, oder der Stille, die manch anderer schlicht nicht erträgt. Meist ein Bein lässig übers andere geschlagen, seine hageren Körper in einer gebückten Haltung, hat er das Gesicht zu einem amüsierten lächeln verzogen, das seine markigen Gesichtszüge und die ihn auszeichnende Zahnlücke herausstreicht. Abdalle ist kein Mann der grossen Worte. Er braucht sie nicht. Das Leben hat dem 19-Jährigen zu oft ein Schnippchen geschlagen, als dass er sich in langen Reden profilieren würde. Stattdessen lacht er der Absurdität des Lebens ins Gesicht und akzeptiert sie – egal, wie hoffnungs- und sinnlos sie manchmal erscheinen mag. Das Bewusstsein, dass uns die menschliche Existenz ein einziges Rätsel bleibt, scheint seinen Charakter geformt zu haben.
Unbekanntes Somaliland
Schon seine Herkunft ist vielen unbekannt. Somaliland, ein Land in Ostafrika, das sich zu Beginn der 90er Jahren während des in Somalia wütenden Bürgerkrieges abspaltete. Bis heute ist der Staat völkerrechtlich an Somalia gebunden und von keinem einzigen UNO-Mitgliedsstaat anerkannt. Hier wächst Abdalle auf. In der Hauptstadt Hargeysa lebt er mit seiner Mutter und sechs Geschwistern. Zwar in armen Verhältnissen, doch zumindest ohne Angst, «plötzlich auf der Strasse erschossen zu werden», wie es in Somalia der Fall sei. Er erzählt, wie sich seine Heimat nach der Deklarierung ihrer Unabhängigkeit von den Kriegswirren der krisengeschüttelten Nachbarländer verabschiedet und sich in eine kleine Oase des Friedens und der Stabilität verwandelt habe. «Die Menschen hier haben realisiert, dass aus Gewalt nichts Gescheites herauskommt», sagt Abdalle.
Diese Stabilität lässt sich auch mit der Abwesenheit religiös-fundamentalistischer Organisationen erklären. Im Gegensatz zum Nachbarland Somalia, wo die Al-Shabaab-Miliz mit Terroranschlägen immer wieder Angst und Schrecken verbreitet, konnten sich islamistische Organisationen in Somaliland bis heute nicht etablieren. Abdalle relativiert, auch in seiner Heimat sei eine extremistisch gesinnte Gesellschaftsschicht präsent, sie sei jedoch zu klein, um das Land in ernsthafte Schwierigkeiten zu bringen.
Der religiöse Einfluss ist im Alltag trotzdem nicht zu übersehen. Frauen ohne Kopftuch sind nur selten anzutreffen, Alkohol ist verboten. Abdalle beschreibt, wie der Islam ihm während seiner turbulenten Kindheit oft Halt gibt. Den Koran lernt er früh kennen, und als er ihn auswendig kann, wird er eingeschult. Doch als er zum jungen Mann heranwächst, beginnen die Zweifel, und er fängt an, Fragen zu stellen. Fragen, auf die er keine Antworten erhält oder ein «das weiss nur Gott.» Dieser Unwille, auf seine Antworten einzugehen, dem wissensdurstigen Jungen bei seiner Identitätssuche zu unterstützen, lässt ihn den Glauben in die Religion verlieren. Er kehrt sich mehr und mehr von seinem Glauben ab und findet Zuflucht in anderen Beschäftigungen. Im Akademischen zum Beispiel. Abdalle ist ein exzellenter Schüler, besucht die beste Highschool des Landes und erhält nach einem sehr strengen Auswahlverfahren mit hunderten von Konkurrenten ein Stipendium, um sein Diplom an einer ausländischen Schule abzuschliessen.
Odyssee durch die Flughäfen der Welt
Doch mit der Aufnahme beginnen die nächsten Probleme. Da Somaliland nicht international anerkannt ist, bleibt Abdalle nichts anderes übrig, als sich für einen somalischen Pass zu bewerben, den er erst nach einem langwierigen bürokratischen Prozess erhält. Damit sind die Probleme jedoch nicht gelöst. Er versucht Flüge zu organisieren, die nötigen Transitvisen und dazu das Studentenvisum im Zielland zu erhalten. Am Schluss ist all die Mühe umsonst, bereits nach seinem ersten Flug, in Addis Abeba, wird er abgewiesen, seine Dokumente sind nicht korrekt ausgefüllt. Es folgt ein Jahr des bangen Wartens. Abdalle ist rastlos, weiss nicht, was er mit seiner Zeit anfangen soll, die Ungewissheit macht ihm zu schaffen. Er kommt mit Marihuana in Kontakt, beginnt Khat zu kauen, ein Rauschmittel, das oft mit Koffein, manchmal mit Kokain verglichen wird. Die Droge macht süchtig wie Abdalle selbst sagt, und er erzählt von Freunden, die bis zu einem Jahr unter den Entzugserscheinungen gelitten haben. Es sei ein Beispiel für den Widerspruch, indem sich die somaliländische Gesellschaft beim Versuch, religiöse Werte und lokale Traditionen zu verbinden, oft befindet. Nach einem langen Jahr des Wartens versucht er es erneut. Bis nach Brasilien schafft er es, wo er, nach über sechzig Stunden des Reisens, wieder umkehren muss – zurück nach Somaliland. Wieder war ein ungültiges Visum das Problem. Einen Monat später klappt es dann trotzdem, nach einer siebzig Stunden langen Reise erreicht er das zentralamerikanische Costa Rica.
Das lange Jahr der Ungewissheit, die vielen Tage, gestrandet in den Flughäfen dieser Welt, all das hat Abdalle geprägt fürs Leben, ihn autoritätsungläubig gemacht. Geplagt von der Sehnsucht nach Hause und den hohen Mauern der Schule, zieht er sich in seine eigene Welt zurück, eingenommen von Alkohol, Marihuana und anderen Drogen. Mit Regeln kann er nicht viel anfangen, er verachtet sie regelrecht. So sehr, dass ihn die Schuldirektion nach eineinhalb Jahren wieder rausschmeisst. Auch da bleibt er ruhig, zumindest hat er seine Freiheit wieder.
Schert es ihn wirklich nicht gross oder hat er die Hoffnung schlicht aufgegeben? Beides könnte seine Gelassenheit über die Ungerechtigkeiten dieser Welt, diese faszinierende Ruhe im Umgang mit Problemen, wenn andere bereits die Fassung verloren hätten, erklären. Geprägt von seiner Herkunft und Geschichte hat Abdalle realisiert, dass das Leben für manche nicht viel Erfreuliches bereithält. «Das gilt es zu akzeptieren», sagt er zum Abschluss, «ob du dich über einen Zwei-Stunden- oder Vier-Tage-Flug beschwerst, spielt am Ende keine Rolle.» Und dann ist er weg, eingestiegen in den Bus, geht er seinen eigenen Weg, schlicht und einfach der Stille lauschend.
Jugendliche aus aller Welt. tize.ch – Redakteur Levin Stamm beleuchtet ungewöhnliche Geschichten. Immer mittwochs. Alle bisherigen Geschichten zum Nachlesen gibt’s hier.