In Flip-Flops und Tank Top sitzt er da, ein Getränk in der Hand, das Meeresrauschen im Hintergrund. Das Setting, irgendwo in der Karibik, geradezu paradiesisch. Der Sandstrand ist ein Katzensprung entfernt, die Palmen schützen vor den giftigen Sonnenstrahlen der Mittagshitze. Urlaub, möchte man meinen, aber der Schein trügt. Der junge Herr, der hier vor seinem Bungalow sitzt, arbeitet. Er gehört der neuen Generation der digitalen Nomaden an, hat sich die Möglichkeiten der neusten Technologien zunutze gemacht und sich von seinem gewohnten Umfeld losgekoppelt.

Firmensitz in Estland.

Ben brach vor sechs Jahren auf, um den Traum der totalen Freiheit auszuleben. Zu Beginn noch ohne wirklichen Plan hat sich der ambitionierte Webentwickler in der Zwischenzeit sein eigenes Geschäft aufgebaut. Kein Büro, den Firmensitz bei einem billigen Anbieter in Estland registriert, steuerfrei, nur virtuell. Angestellte? Braucht er nicht. Es läuft alles übers Netz, Kreativität in Problemlösungen, sowie Spontanität sind das Gebot der Stunde, wer sich mit dem nicht anfreunden kann, hat in diesem Business verloren. «Es ist schon ein hohes Mass an Organisationstalent erforderlich, sonst hätte ich den Überblick längst verloren», sagt Ben, der dem digitalen Nomadentum nach anfänglichen Schwierigkeiten endgültig verfallen ist. „Es kostete mich ein ganzes Jahr Arbeit, bis ich mir den Lebensunterhalt endlich verdienen konnte.“ Sein ganzes Projekt sei auf Messers Schneide gewesen, denn so weiterleben hätte er nur noch wenige Monate können. Glücklicherweise freundete er sich mit einem anderen digitalen Nomaden an. Die beiden wurden Partner, Bens Unterfangen war gerettet.

„Networking“, nennt man das. Und es wird von den digitalen Nomaden schon beinahe gepflegt wie eine Religion. Wer ein über den ganzen Planeten verstreutes, gut gepflegtes Netzwerk an Kontakten hat, kann richtig gut Geld verdienen. Dafür unternehmen die Nomaden alles. Von sogenannten Network-Partys, wo die ganze Szene an einen gemeinsamen Ort pilgert, um sich über die neusten Entwicklungen in der Szene auszutauschen, bis zu Coworking-Spaces, Gemeinschaftsbüros, wo sich der Nomade für wenige Stunden ein vollausgestattetes Büro mieten kann. Das Konzept ist in einem raschen, ununterbrochenen Wandel. Mit den scheinbar unbegrenzten digitalen Möglichkeiten lässt sich nichts planen. Was heute noch felsenfest scheint, kann morgen schon wieder über den Haufen geworfen werden. Die Balance in diesem Tsunami an Informationen zu bewahren, scheint die wahre Kunst in diesem Milieu zu sein.

Nur eine Modeerscheinung?

Ununterbrochen reisen mag auch Ben nicht. Seit zwei Monaten hat er sich nun in der Karibik niedergelassen. In einem Hostel kriegt er gratis Kost und Logis, dafür hilft er tagsüber jeweils ein wenig aus. Auf eine Arbeitsbewilligung könnte er lange warten, mit seinem digitalen Unternehmen hat er aber ausgesorgt. „Es ist alles sehr unbürokratisch, das geniesse ich am meisten.“ Jetzt, anfangs November, es ist Nebensaison, gibt es sowieso nicht viel zu tun. Sobald die Touristenmassen wieder eintrudeln, will er weiterreisen. Wohin? Keine Ahnung. „Internetverbindung ist die einzige Voraussetzung“, sagt er und wendet sich wieder seinem Laptop zu.

Ist das digitale Nomadentum das Arbeitsmodell der Zukunft? Tatsächlich gibt es Firmen, die das Konzept bereits in die Realität umgesetzt haben und die für die Angestellten keinen festen Arbeitsplatz voraussetzen. Adobe zum Beispiel beschäftigt einen Grossteil der Arbeiter über dem Planeten verstreut, keine Anwesenheitskontrolle, jeder arbeitet so viel, wie er es als nötig erachtet. Die Zahl der digitalen Nomaden wächst unbeschränkt, ein Ende scheint nicht in Sicht. Wird dieser Trend unbegrenzt so weitergehen? Experten bezweifeln es, sehen sie in diesem Trend eine Stagnationsmarke. Beständigkeit werde auch für die meisten Nomaden früher oder später ein Thema werden. Spätestens, wenn es um die Familiengründung gehen wird.

Für Ben ist das alles weit weg. Eine Abkehr vom digitalen Nomadentum kann sich der 30-Jährige nicht vorstellen. „Da müsste sich schon etwas Grundlegendes ändern.“ Ob er denn nie mehr nach Neuseeland zurückkehren wolle? „In einigen Jahren, sicher. Als Tourist.»

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