«Ich wünschte ich wäre nie geboren worden.» Die Philosophie des Antinatalismus rutscht ins Mainstream. Was steckt hinter diesem Wunsch der Nicht-Existenz? Laut Antinatalisten ist das Leben kein Segen, sondern ein Zwang und Fluch.

Der Antinatalismus ist eine philosophische Stellung die sich gegen Fortpflanzung stellt. Jedoch variiert die genaue Bedeutung des Antinatalismus von Person zu Person. Antinatalismus kann aber muss nicht bedeuten, dass es illegal wäre Kinder zu haben oder, dass der Mensch zwanghaft sterilisiert werden sollte. Jemand könnte antinatalistische Ansichten vertreten und trotzdem gegen Abtreibung sein. Es ist auch wichtig diese philosophische Stellung nicht mit dem Pro-Mortalismus gleichzustellen. Nach dem Pro-Mortalismus wäre es ethisch korrekt jedes menschliche Leben sofort und schmerzlos zu beenden, um zukünftiges Leiden zu unterbinden. Zwischen den Fragen, ob das Leben es wert ist geboren zu werden und ob ein Leben es wert ist weiterzuleben, liegt ein grosser Unterschied.

Schon im Kohelet, ein Buch der hebräischen Bibel, ist eine Stelle mit antinatalistischen Zügen vorhanden. Auch Sophokles, ein griechischer Dichter, schrieb mit ähnlichem Empfinden. Daraus lässt sich schliessen, dass der Kern des Antinatalismus schon seit einer längeren Zeit existiert.

Da preise ich immer wieder die Toten, die schon gestorben sind, und nicht die Lebenden, die noch leben müssen.

Glücklicher aber als beide preise ich den, der noch nicht geworden ist, der noch nicht das schlimme Tun gesehen hat, das unter der Sonne getan wird.

Ekklesiastes 4:2-3

Argumente für den Antinatalismus

Überbevölkerung und Umweltschutz

In 1991 wurde die «Voluntary Human Extinction Movement» («Bewegung für das freiwillige Aussterben der Menschheit») gegründet, die sich wegen der Überbevölkerung gegen die Reproduktion des Menschen stellt. Schon im späten 18. Jahrhundert erklangen Stimmen der Besorgnis, betreffend der Überbevölkerung. Die UN vermutet dass im Jahr 2100 die Weltbevölkerung die 11 Billionen-Marke überschreiten wird. Durch das Aussterben der Menschheit könnte die Zerstörung des Planeten und einen grossen Teil des vom Menschen ausgelösten Leid aufgehalten werden. Dazu gehören natürlich auch gesellschaftliche Probleme die durch die Überbevölkerung mitgetragen werden oder natürlich auch der Klimawandel.

Diese Motive des Umweltschutzes oder das Verhindern von Leid lässt sich in vielen Argumenten des Antinatalismus finden und verbindet auch viele. Alles in Allem sieht die Zukunft für viele nicht wundervoll aus. Mit grosser Wahrscheinlichkeit wird sich die Lebensqualität in der Zukunft nur verschlechtern. Warum dann Kinder in diese todgeweihte Welt bringen?

Ohne Geburt keinen Tod

Jeder Mensch und alle, die du liebst, werden sterben und dieser Tod wird wahrscheinlich nicht angenehm werden. Jeden Tag sterben grob 150’000 Menschen und der einfachste Weg diese Tode zu verhindern ist keine Kinder zu haben.

Die Geburt ist nicht einvernehmlich

Du hattest keinen Einfluss in der Entscheidung ob du in diese Welt geboren werden willst. Jeder wird ohne sein Einverständnis geboren und so gesehen gezwungen ein Leben zu leben, welches man vielleicht gar nicht leben will. Natürlich ist es nicht möglich diese Einwilligung zu erlangen, jedoch wird eine Abwesenheit von Konsens, zum Beispiel im Geschlechtsverkehr, mit einem Nein gleichgestellt. Warum also nicht auch bei der Geburt?

Leben ist Leid

Es wird David Benatar, einem südafrikanischem Philosophen, zugeschrieben den Begriff Antinatalismus eingeführt zu haben. 2006 veröffentlichte er sein Buch «Better Never To Have Been: The Harm Of Coming Into Existence», indem er vertieft in den Antinatalismus eingeht und dafür argumentiert. Für ihn ist das Ziel des Antinatalismus menschliches Leid zu verhindern.

Asymmetrie zwischen Freude und Leid

David Benatar meint, dass zwischen Gutem und Schlechtem eine Asymmetrie existiert. Er argumentiert dass:

  • Die Präsenz von Leid schlecht ist
  • Die Präsenz von Freude gut ist
  • Die Absenz von Leid gut ist, obwohl niemand davon profitiert
  • Die Absenz von Freude nicht schlecht ist, solange sie niemandem entzogen wird
Szenario A (Mensch existiert)Szenario B (Mensch existiert nicht)
Präsenz von Leid (Schlecht)Absenz von Leid (Gut)
Präsenz von Freude (Gut)Absenz von Freude (Nicht Schlecht)

Nach diesem Argument enthält die Existenz Leid und Glück und die Nicht-Existenz kein Leid oder Glück. Daher wäre die ethische Entscheidung die Nicht-Existenz, also das belassen der Reproduktion.

Leidende Nachfahren

Ausserdem meint Benatar, dass man durch die Kreation eines Kindes nicht nur für dessen Leid verantwortlich ist, sondern auch für all das Leid, dass die Nachfahren dieses Kindes erfahren. Wie auch alle Nachfahren dieser Nachfahren und so weiter.

Misanthropischer Antinatalismus

Die obigen Argumente fielen unter den philanthropischen Antinatalismus. Diese Stellung ist gegen menschliche Reproduktion weil man Menschen liebt und menschliches Leid verhindern möchte. Auf der anderen Seite liegt, laut Benatar, jedoch noch der misanthropischer Antinatalismus. Misanthropische Antinatalisten sind gegen die Geburt, da sie Menschen hassen. Gemäss ihnen ist der Mensch eine unglaublich zerstörerische und böse Spezies, die für den Tod von Billionen Menschen und Tieren verantwortlich ist. Wenn eine nicht-menschliche Spezies dieses Ausmass von Zerstörung ausüben würde, wäre der Mensch dafür, dass sich diese Spezies nicht mehr fortpflanzen dürfte, glaubt Benatar.

Argumente gegen den Natalismus

Das Leben ist für die meisten schön

Die meisten Menschen verspüren eine natürliche Intuition, wonach das Leben gut ist. Denn jeder Mensch besitzt auch einen primitiven Überlebensinstinkt, der nur schwer zu ignorieren ist. Sie geniessen das Leben trotz den negativen Aspekten. Viele würden ihr Leben aufgeben um das Leben eines Geliebten zu retten. Ausserdem wurde durch Studien bewiesen, dass der Mensch zum Optimismus tendiert. Schlussendlich hängt es auch davon ab, ob das Schöne und die Freude in unserem Leben mehr Gewicht besitzen, als das Negative und das Leid im Leben.

Das freiwillige Aussterben ist schwer umsetzbar

Wäre das freiwillige Aussterben der Menschheit überhaupt möglich? Gäbe es nur eine Handvoll von Personen, die sich trotzdem fortpflanzen würden, würde die Menschheit trotzdem überleben. Es müssten 100% der Bevölkerung keine Kinder gebären, was – unter anderem wegen der Uneinigkeit der Menschheit- ziemlich unwahrscheinlich wäre.

Die Chance den Klimawandel und unnötiges Leid aufzuhalten ist viel höher, wenn einfach über solche Probleme geredet wird und die nächsten Generationen darüber aufgeklärt werden. Natürlich hört sich dies einfacher an, als es dann schliesslich ist, jedoch sind die Erfolgschancen viel höher, als jeden zu überzeugen keine Kinder zu haben.

Keine Zustimmung ist manchmal okay

Wir zwingen anderen vieles auf ohne ihre Zustimmung bekommen zu haben; Kinder zu befehlen Gemüse zu essen oder sie in die Schule zu schicken. In der Kindheit müssen wir ständig Dinge tun, die wir nicht unbedingt wollen und trotzdem sieht die Gesellschaft es nicht als ethisch falsch an. Obendrein wissen wir schlichtweg zu wenig über die Existenz um sicher sagen zu können, dass man vor der Geburt keine Zustimmung geben kann.

  • Gibt es vor der Geburt eine Seele, die sich entscheidet in die Existenz zu kommen? Das wissen wir nicht.
  • Werden Seelen bei der Geburt ohne Zustimmung in einen Körper gezogen? Das wissen wir nicht.
  • Gibt es überhaupt Seelen? Oder ist unsere Wahrnehmung des Selbst eine Erfindung des Gehirns? Das wissen wir nicht.

Ist das Leben wirklich so schlecht?

Laut den Antinatalisten ist das Leben, auf die Lebensqualität bezogen, schlechter als man denkt. Für viele Drittweltländer möge diese Aussage vielleicht auch stimmen, bloss ist es immer eine Frage der Ansicht. Viele Menschen sind der Ansicht, dass die Welt schlechter wird. Doch stimmt das? Es gibt auch viele Anzeichen, die darauf deuten, dass die Welt besser wird. Die Lebenserwartung steigt an vielen Orten der Welt und es gibt Beweise, dass wir weniger rassistisch, sexistisch und homophob werden.

Wenn man die mentale Gesundheit stattdessen beobachtet, wird die Sache kniffliger. Depressionen oder das Fehlen eines Sinnes im Leben sind häufig aufzufinden. Doch solchen Menschen kann geholfen werden und das Bewusstsein gegenüber mentaler Schwierigkeiten ist in den letzten Jahrzehnten stark gestiegen. Das Leben ist hart und mag manchmal sinnlos und dunkler erscheinen, doch dies ist keineswegs ein permanenter Zustand. Mit Unterstützung und Beratung kann solchen Menschen geholfen werden. Diesbezüglich möchte ich an dieser Stelle gerne auf einen anderen Beitrag hinweisen, der sich um dieses Thema handelt: Buchrezension: Man’s Search For Meaning.


Zusammenfassung

Argumente für den Antinatalismus

  • Verhindern von Überbevölkerung
  • Schutz der Umwelt und Tierwelt
  • Ohne Geburt keinen Tod
  • Kein Einverständnis des Kindes bei der Geburt
  • Das Kind und dessen Nachfahren vor zukünftigem Leid schützten

Argumente gegen den Antinatalismus

  • Intuition und Optimismus: das Leben ist gut
  • Das freiwillige Aussterben der Menschheit ist praktisch unmöglich umzusetzen
  • Keine Zustimmung ist nicht immer schlecht
  • Das Leben ist gar nicht so schlecht

Der Antinatalismus ist ein provokatives und für viele ein unangenehmes Thema. Gerade deswegen ist es aber auch umso interessanter darüber zu diskutieren und zu tüfteln. Vielen Menschen ist klar, dass sie Kinder haben wollen. Das ist völlig normal in unserer Gesellschaft. Und die Gründe für solche, die keine Kinder haben wollen sind häufig gleich: Kinder sind zu laut, aufwändig, teuer, etc. Eine grosse Menge Leute sind sich nicht wirklich bewusst, was für eine Bedeutung die Kreation eines neuen Menschen mit sich trägt und haben noch nie wirklich darüber nachgedacht.


Danke für das Lesen dieses Beitrags, welcher ein bisschen lang geraten ist und ich hoffe ich konnte dir eine neue Perspektive auf das ganze Thema bieten. Wenn ich deine Interesse wecken konnte, empfehle ich dir das Buch «Better Never To Have Been: The Harm Of Coming Into Existence» von David Benatar.

Geschrieben von:

Homo Ludens

9 Comments

  1. «Depressionen oder das Fehlen eines Sinnes im Leben sind häufig aufzufinden. Doch solchen Menschen kann geholfen werden und das Bewusstsein gegenüber mentaler Schwierigkeiten ist in den letzten Jahrzehnten stark gestiegen. Das Leben ist hart und mag manchmal sinnlos und dunkler erscheinen, doch dies ist keineswegs ein permanenter Zustand.» –
    Sicher kann vielen Depressiven geholfen werden, aber Depression kann auch zum Dauerzustand werden. Manche Menschen haben schon seit Jahrzehnten Depressionen. Schon mal etwas von chronischen Depressionen gehört? Das gibt es leider wirklich.

  2. Ich bin auf dieses Thema gestoßen, nachdem der Inder seine Eltern verklagt hat, weil sie ihn ohne sein Einverständnis gezeugt und geboren haben. Es gibt ein Gesetz, wonach ein Embryo pränatal nicht auf die Erbkrankheit Chorea Huntington untersucht werden darf, weil die Krankheit erst im Erwachsenenalter ausbricht und er dann sein Einverständnis zu der Untersuchung geben muss. Wenn die Krankheit in den Genen ist, bricht sie aber mit Sicherheit aus und führt zu sehr großem Leid.
    So gesehen, wird der Embryo ja schon als geschäftsfähiges Wesen wahrgenommen.
    Ich bin Abtreibungsbefürworter, weil ich denke, dass Embryonen ohne gute Zukunft, ohne herzlich Willkommen zu sein und ohne sicheres zukünftiges Zuhause mit Zeit, Wohlstand und Liebe, ja auch mit Intelligenz, niedrigem Neurotizismus, Gesundheit und Freiheit, ein überwiegend leidvolles Leben zu führen gezwungen sind.

    Jedes empfindsame Wesen muss unendlich viel Leid ertragen. Viele können das nicht bewältigen. Viele Menschen, wenn sie alt, krank und gebrechlich sind, leben von Tag zu Tag ohne Freude und ohne Ziele. Ich finde, auch für unsensible Menschen, ist Leben für die meisten überwiegend Leid. Immer ein Kampf um Ressourcen. Ein Kampf um Wohnung, gute Bildung, Partner und Geld. Nur wenige Menschen haben immer Glück und können einfach durchs Leben gehen.

    • Janine Graber Reply

      Liebe Sabine
      Danke für deinen ausführlichen Kommentar. Es war sehr spannend, deine Meinung über das Thema zu hören.
      Liebe Grüsse
      tize.ch, Janine

  3. Hey, mir widderspricht jegliche Art von Lebenserschaffung. Somit weniger Leid! 🙂

    • Janine Graber Reply

      Liebe/r Animo
      Danke für deinen Kommentar. Es war sehr spannend, deine Meinung über das Thema zu hören.
      Liebe Grüsse
      tize.ch, Janine

  4. Ich bin sehr froh, dass ich mich früh entschieden habe, keine Kinder in diese Welt zu setzen.
    Meine Erblinie endet mit meinem Tod. Es wird in meiner Erblinie niemand mehr unter Kriegen, Krankheiten oder Klimawandel leiden müssen.
    Ich werde eines Tages sorglos von dieser Welt gehen. Es gibt keine Nachfahren, die ich zurücklasse und um die ich mir Sorgen machen müsste.

  5. Mein Leben ist überhaupt nicht schlecht. Ich schwimme in Geld, daß ich nicht festhalten kann und das mir im Krisenfall zu nichts nütze ist.
    Es geht mir eigentlich richtig gut und ich bin zufrieden. Trotzdem oder gerade deshalb plädiere ich für den Antinatalismus.
    Ich bin Opa geworden. Für meine Lebenszeit wird es noch geradeso (Corona ausgenommen) gut gehen.
    Meine Tochter muß ( abgesehen von Corona) im letzten Drittel ihres Lebens mit Krieg, Entbehrung und Leiden rechnen.
    Mal rein statistisch über die letzten Jahrhunderte betrachtet.
    Mein Enkel… Für ihn sehe ich absolut schwarz und das nicht wegen meiner Lebenseinstellung sondern real.
    Antinatalismus ist die einzige Chance, den Kreislauf zu durchbrechen.
    Im Menschen ist sich die Natur ihrer selbst bewußt geworden.
    Sie hätte es besser bleiben lassen sollen.
    Nihil non nihilo est. Cogito ergo contra sum.
    LG
    Mathias

  6. Danielle Merlo Reply

    Mega spannende Artikel! Er regt eine richtig zum Nochdänke aa:)

    • In dem Text taucht 2x das Wort «Billionen» auf.
      Kann es sein, dass tatsächlich Milliarden gemeint sind (Billion eng. = Milliarde dt.)

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