Wir haben wohl alle langsam genug gehört vom Corona-Virus, von Verrückten, die die WC-Papier- und Teigwarenregale leer kaufen und von Idioten, die sich trotz Verbot vom Bundesrat immer noch in 10 köpfigen Gruppen im Park treffen. Aber trotzdem will ich dir hier eine kurze Geschichte erzählen; eine Geschichte, die so oder so ähnlich passiert ist, aber ganz sicher so passiert sein könnte.
2020. Das Jahr in dem ein einfacher Einkauf in der Migros (oder deinem Detailhändler des Vertrauens) zum Spiesrutenlauf wird und das gefragteste Gut auf einmal etwas so simples wie WC-Papier ist. Und trotzdem stehe ich an diesem Nachmittag im Laden mit dem orangen M, denn ganz ohne einkaufen geht es halt leider doch nicht. Ich schlängle mich durch die Regale, vorbei an Müttern mit schreienden Kindern, und lande irgendwann vor dem Teigwarenregal. Oder dem, was davon übrig ist, denn ausser einer verweisten Packung Vollkorn-Spaghetti ist das meterlange Regal vollkommen leergefegt. Zum Glück hatte ich nicht die Absicht Teigwaren zu kaufen, doch dieser surreale Anblick lässt mich leer schlucken.
Neben mir steht eine alte Frau mit mit ihrem Rollator, auf dem ein Einkaufskorb steht, in dem einige Bananen, ein Brot, zwei Zwiebeln, eine Packung Cervelats und eine Tafel Schokolade liegen. Ich hätte die Frau erst fast nicht bemerkt, so klein, gebückt und unscheinbar steht sie da vor dem leeren Regal, doch etwas an ihr irritiert mich. Über ihre Wangen laufen Tränen.
«Ein leeres Regal ist doch noch kein Grund zum Weinen.», ist das erste was mir etwas genervt durch den Kopf schiesst, als ich die Tränen der alten Frau sehe. Doch noch im selben Moment bin ich froh habe ich diesen voreiligen Gedanken nicht laut ausgesprochen, denn dann würde ich mir jetzt wohl auf die Zunge beissen. Ich habe ja keine Ahnung, was im Kopf dieser Frau gerade abgeht, sie wird sicher einen Grund haben, weswegen sie diese offensichtliche Abwesenheit von Teigwaren so mitnimmt und in meinem Kopf setzt das Kopfkino ein.
Die Frau hat offensichtlich schon einige Jahrzehnte hinter sich und auf einmal sehe ich sie als junges Mädchen, das den Zweiten Weltkrieg miterlebt hat. Ihr Vater ist im Aktivdienst, die Mutter mit den vier Kindern alleine zu Hause in der kleinen Wohnung, die eigentlich viel zu klein ist für die sechsköpfige Familie. Doch es sind harte Zeiten und ein Dach über dem Kopf ist ein Dach über dem Kopf. Anfangs ging es ihnen eigentlich noch gut, die Grosseltern wohnen auf dem Land und so hatten sie immer frische Eier und Gemüse, doch irgendwann kam immer der Winter und auch die Hühner wurden irgendwann geschlachtet. Der Krieg dauerte Jahr um Jahr an und schon nach kurzer Zeit wurden die Lebensmittel knapp. Einfach in den nächsten Laden spazieren und den Wocheneinkauf erledigen war schon vor dem Krieg nicht einfach, denn Lebensmittel waren teuer und die Familie hatte nicht viel Geld. Doch jetzt im Krieg war es noch viel schwieriger. Die Regale waren zeitweise leer und ohne Lebensmittelkarte erhielt man überhaupt nichts mehr. Frisches Brot durfte nicht mehr verkauft werden und der Kaffee wurde mit allem möglichen und unmöglichen gestreckt. Verhungert ist zwar kaum jemand, doch wirklich satt ging damals niemand ins Bett.
Der Krieg ist lange vorbei und die alte Frau ist kein junges Mädchen mehr und musste schon lange keinen Hunger mehr haben. Doch beim Anblick des leeren Teigwarenregals kommen die Erinnerungen zurück. Sie hat wieder ihre Mutter vor Augen, die mit drei Kartoffeln, zwei Karotten und einem kleinen Stück Käse vier hungrige Kindermäuler und sich selbst versorgen muss. Sie sieht ihren Vater, der völlig erschöpft von der Grenze nach Hause kommt und stundenlang mit leerem Blick am Küchentisch sitzt und an die Wand starrt. Und plötzlich kriegt sie Angst. Angst, dass das alles wieder kommt, dass die Lebensmittel wieder rationiert werden; Angst, dass sie wieder Hunger haben muss.
Nachtrag
Vor allem die historischen Aspekte dieser Geschichte sind wahrscheinlich nicht immer ganz korrekt, denn die Schweizer Bevölkerung wurde dank Massnahmen wie der Anbauschlacht während dem Zweiten Weltkrieg sehr gut mit Lebensmitteln versorgt, doch darum geht es auch gar nicht. Wir haben unglaubliches Glück in der Schweiz leben zu dürfen; einem Land, in dem wir immer genug zu Essen haben und das über ein unglaublich gutes Medizinwesen verfügt. Also bitte: Niemand braucht fünf Kilo Teigwaren! Bleibt zu Hause, bleibt gesund und möge euch das Dach noch lange nicht auf den Kopf fallen.