Rund 20’`000 Menschen in der Schweiz sind HIV-Infizierte. Einen von ihnen haben wir getroffen und zu seinem Umgang mit der Krankheit befragt. Zudem haben wir einen Experten besucht, um uns auch über die medizinischen Aspekte zu informieren. Uns erwarteten spannende und verblüffende Antworten, mit denen wir nicht gerechnet haben.

Etwas unsicher, aber erwartungsvoll stehen wir vor der steinernen Treppe, die zur Tür von Felix W.*s Wohnung führt. Sein Zuhause, das er bis vor kurzem noch mit jemand weiterem bewohnt hat, befindet sich im Zürcher Niederdörfli. Im Flur treffen wir auf einige Kisten und werden von einer halbnackten Schaufensterpuppe begrüsst. Die alte Wendeltreppe knarrt unter unseren Sohlen. Als wir sie hinaufsteigen, steigt auch unsere Spannung. Nachdem Felix uns jedoch hereinbittet, verfliegt diese sogleich. Vor uns steht ein sympathisch wirkender 54-jähriger Mann in Pullover und Jeans, der uns gleich Kaffee und Kuchen anbietet. Seine Krankheit, das HIV, sieht man ihm nicht an.

Über Katzen, Verluste und Tote

Als Felix in die Küche eilt, haben wir Zeit, uns in seinem Reich umzusehen. Was uns zuerst ins Auge springt, sind die unzähligen Katzenkissen, die das Sofa zieren. Dass dieser Mann Katzen mag, ist auch sonst nicht zu übersehen: Katzenstatuen und seine 21 Jahre alte Katze Dixie sind sein ganzer Stolz. Auch sonst ist sein Apartment sehr persönlich eingerichtet: Überall, egal ob an den Wänden oder auf dem Couchtisch, gibt es Schatzstücke seiner Reisen: Grosse und kleine Buddhas und kubanische Bongos. Viele Pflanzen geben der Wohnung einen grünen Touch und durch die hohen Fenster wirken die Räume sehr hell und offen.

Als Felix wieder zurückkommt, erzählt er uns gleich zu Beginn von einem Thema, bei dem wir froh sind, es nicht selbst aufgreifen zu müssen: Verlust und Tod. Sein Lebensgefährte ist vor noch nicht allzu langer Zeit an Gelbsucht und HIV gestorben. Auch sonst erzählt er frei von der Leber weg, mit wie vielen Todesfällen er schon konfrontiert worden ist. Uns scheint, als gehöre bei Felix der Tod zum Alltag. Vielleicht ist es als HIV-Infizierter ganz normal, dass der Tod einen grösseren Stellenwert im eigenen Leben einnimmt.

Wann und wo er sich angesteckt hat, weiss er nicht, das sei aber auch nicht wichtig. «Schuld bin ja ich, ich bin nicht vergewaltigt worden oder so. (…) Ich kann keinem die Schuld zuweisen, das ist für mich auch keine Frage. Nie. Schuld bin ich, niemand anders. Ich hätte eher Angst, dass ich jemand angesteckt habe. Das wäre etwas, das nicht cool wäre, aber ich wüsste nicht, dass es mal so war. Ich bin immer ehrlich, das ist mir sehr wichtig. Ich habe kein Tabu daraus gemacht», antwortet Felix auf unsere Fragen.

Wir sind beeindruckt von seiner Einstellung und auch sonst verblüfft er uns mit seinen Weisheiten. Als wir fragen, wie er denn mit der Krankheit umgehe, sagt er, dass er nicht jammern will und ein relativ schönes Leben mit einem tollen Umfeld hat. Inspiration für diese Denkweise sind Menschen, die bereits seit ihrer Geburt infiziert sind: «Ihre Mütter und Väter sind gestorben, sie sind verwaist und niemand jammert. Warum soll ich es tun?»

Ein Leben lang Medikamente

Felix hatte lange Angst davor, sich testen zu lassen, da die medikamentöse Behandlung in seinen 20er-Jahren noch nicht sehr weit fortgeschritten war und die Diagnose somit das Todesurteil bedeutete. Als er aber wegen starkem Gewichtsverlust und Ausschlägen zum Arzt musste, wurde ihm vorgeschlagen, einen HIV-Test zu machen. Das Ergebnis: positiv. „Es war wie ein Schlag in die Magengrube. Doch gross anmerken liess ich mir nichts. Die Ärztin fragte mich: „Wieso bleiben Sie so cool?““, schildert er uns. Wie er sich in dieser Situation gefühlt haben musste, können wir uns nicht einmal annährend vorstellen. Doch Felix hatte Glück: Er war einer der Ersten, bei dem 1995 die kombinierte Behandlung mit zwei Wirkstoffen eingesetzt wurde, die auch wirklich zu einer Eindämmung der Viren verhalf. Er war also quasi ein Versuchskaninchen.

Über den Tag verteilt, alle acht Stunden, musste Felix sehr hohe Dosen zu sich nehmen, heute schluckt er morgens eine Tablette – das wars. Dieser extreme Fortschritt in der Medikamentenindustrie wird uns während des Gespräches mit einem Arzt noch einmal sehr deutlich. Er betreute Patienten, welche zu den Ersten zählten. Auch sie waren der Ungewissheit von damals ausgeliefert. Die Tabletten machen einen nicht wieder gesund, sie dämmen das Virus nur ein. Felix kann ungeschützten Geschlechtsverkehr haben, ohne seinen Partner dabei anzustecken. Er sei sogar noch zeugungsfähig, doch auf die Behandlung wird er immer angewiesen sein.

Nicht nur die Medikation hatte sich in den 90er-Jahren stark verbessert, auch die Anzahl der Neuinfektionen sinkt seit 1997 stetig. Doch die Nebenwirkungen der Medikamente sind immer noch enorm: Felix erzählt von schlimmen Fettverschiebungen am Kinn und vor allem am Nacken, die operativ wieder in Ordnung gebracht worden sind. Seit drei Monaten nimmt Felix ein neues Medikament, das bei ihm extreme Albträume auslöst, die seinen ganzen Tag zunichtemachen und ihn regelrecht verfolgen. Auch hatte er für eine kurze Zeit ein Mittel, das bei ihm gröbste Suizidgedanken auslöste und deshalb wollte er dieses so schnell wie möglich wieder absetzen. Weitere häufig vorkommende Nebenwirkungen sind Stoffwechselstörungen, die Nierenleistung wird beeinträchtigt und sexuelle Funktionsstörungen kommen vor. Die Liste der Nebenwirkungen ist beinahe endlos, doch eine andere Wahl als das Medikament zu nehmen, hat er nicht.

Nach über einer Stunde Gespräch fühlen wir uns wie ausgewechselt. Die Lebenseinstellung dieses Mannes berührt uns, zudem haben wir eine ganz andere Sichtweise auf die Krankheit. Geerdet verlassen wir seine Wohnung. Als wir im Türrahmen stehen, scheint viel weniger Zeit vergangen zu sein, als zuerst gedacht.

Wir sind dankbar für diesen emotionalen und ehrlichen Einblick in die Krankheit HIV und in das Leben von Felix W.

*Name von den Autoren geändert

Ein Reportage von Aline Gassmann und Rina Frischknecht

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